Leben ohne Armut – Wie Hilfe wirklich helfen kann

“Leben ohne Armut” (Rupert Neudeck)

Leben ohne Armut – Wie Hilfe wirklich helfen kann

[auf der Website von Franz Alt sonnenseite.com]

Die indische Armut. Wie wir sie bekämpfen und wie wir uns aus der Berührung mit ihr verändern können?! Von Rupert Neudeck

Armut ist etwas anderes in Ruanda, in Haiti, in Ekuador, in Indien und in Deutschland. Wer in einem Land mit endemischer, durch alte Traditionen und Kasten festgemauerter Armut diese beseitigen will, muss sich erst der Frage zu wenden, was ist diese Armut, wie sieht sie aus?

Das tut dieses Buch über die Armut in Indien mit einer bemerkenswerten Disziplin. Es versucht dem europäischen Leser erst die Frage zu beantworten, was Armut ist, allerdings würde der genauere Titel heißen: Was ist indische Armut?

Der zweite Teil geht an die Frage, was wir aus Europa gegen diese Armut tun können? Und der dritte letzte Teil behandelt die oft vernachlässigte Frage, wie wir uns angesichts der Armut verändern sollen?

Der Autor ist vorbereitet, diese Fragen aufzuwerfen, denn er hat über 25 Jahre einen alternativen Lebensstil, der ihn dazu befugt, über arme Menschen und die indische Armut zu urteilen. Er lebt in indischen Dörfern und kennt die Menschen, die da in der Regel unberührt von aller modernen Zivilisation aufwachsen.

Er weiß: Die Armut kann man nur mit Hilfe von Schulbildung überwinden. Aber es ist schwierig, junge Menschen zum Schulbesuch zu animieren.

Denn Sona Murmu hat die staatliche Schule bis zur 10. Klasse durchgemacht. Viele andere waren vorher abgesprungen. Er will sogar auf das College in Bolpur. Sein Vater aber sagt. „Du hast lang genug auf der Schulbank gesessen, jetzt geh’ aufs Feld und hilf uns, das tägliche Essen zu verdienen“.

Autor Kämpchen hat regelrecht Unterricht „in Armut“ in den Dörfern gehabt. In dem Dorf des Santal Stammes Ghosaldanga wussten die Menschen, was für ein schräger Vogel der Deutsche ist, der nicht auf den Feldern durch Handarbeit sein Einkommen verdiente. Mit einer launischen Fröhlichkeit sagten sie, dass er „im Sitzen esse“. Das bedeutet, dass er sich bei der Arbeit nicht körperlich abmühe, sondern er sich hinsetzen kann vor dem Schreibtisch um zu arbeiten und mit dem Verdienst dieser Arbeit „esse“.

Der Autor beschreibt erst mal das fast idyllische Bild des indischen Dorfes mit der intakten Natur und der Nahrungsautarkie. Er kommt dann auf den mentalen Zustand, den Armut auch darstellt. Europäer sind an ein anderes Bild von Armut gewöhnt: Mangel an Materiellem. An  Milchpulver und Aspirin. Und das heißt im Umkehrschluss, wenn genügend Nahrung und Aspirin da ist oder gar gegeben würde von einem Spender, dann ist die Armut vorbei.

Doch das ist nicht so einfach, wie wir uns das in Europa denken: Bei uns halte sich diese simple Sicht der Armut: „Man muss spenden, um die Hungrigen zu speisen, die Nackten zu bekleiden, die Kranken gesund zu machen“. Die Geldspender dürfen sich großzügig fühlen und befreit von Schuldgefühlen. Für diese naive Vorstellung sind nach Kämpchen die „Geberorganisationen“, auch die missionarischen Institute verantwortlich. Sie appellieren nur an die finanzielle Großzügigkeit der Menschen in Europa.

Sie entwickeln Strategien, modern gesprochen funds raising Strategien, die an das Mitleid, die Schuldgefühle des potentiellen Spenders appellieren. „Armut bedeutet einen mentalen Zustand, der nicht einfach durch Materielles beendet wird. Die Netzwerke, die Institutionen funktionieren nicht für diese Menschen in den Dörfern“. Die Armen in Indien lernen, dass außerhalb der Familie nur Macht und Geld ein lebenswertes Leben ermöglichen.

Kaum einer hat bisher unter den Theoretikern der Entwicklungshilfe den Aspekt des schädigenden Analphabetismus so klug herausgebracht wie dieses Buch. Die Armen leben in einer Art Gefangenschaft der sinnenhaften Welt. Wir leben in Europa schon so stark in der Normalität von Lesen und Schreiben, dass wir uns kaum vorstellen können, welches Hindernis der Analphabetismus für die Armen in den Dörfern bedeutet. Sie leben in einem „mentalen Käfig“. Hoffentlich werden sie die 10.- und 20. Rupien-Geldscheine identifizieren können. Doch ein Leben lang rechnen sie angestrengt mit gefurchtem Gesicht an ihren Fingern, weil sie sich die einfachsten Rechenoperationen immer neu vorstellen müssen.

Das Herauskommen aus dieser Dorfwelt ist ähnlich komplex zu beurteilen wie das Herauskommen aus der Armut selbst.

Arme Menschen haben dieselben Menschheitsträume wie wir. Sie wollen in einer gerechten Welt leben. Das Ideal heißt dann: „Wir wollen so leben, dass – lebten alle Menschen so wie wir – eine gerechte Menschengemeinschaft entstünde, in der die materiellen und geistigen Güter entsprechen den echten Bedürfnissen und der echten Notwendigkeit verteilt sind.“ Also ein Kategorischer Imperativ. Noch bestärkt von der Macht des Vorbilds Mahatma Gandhi: „Sei selbst der Wandel, den du in der Welt sehen willst!“

Der Autor bringt uns behutsam mit der Welt indischer Weisheit in Berührung. Es geht um eine einfache Lebensweise, also etwas, wofür man in Europa wieder beginnt, einen Sinn zu entwickeln: Gegen den Zwang des Wirtschaftswachstums, des immer schneller, immer größer, immer gewaltiger Voranschreitens.

„Armut bringt uns in eine Berührung mit dem Leben und der Welt“, so zitiert der deutsche Autor den großen indischen Dichter Rabindranath Tagore, der in einem Dorf eine alternative Schule gegründet hatte. Man kann in dem, was das Buch beschreibt, das Wort Armut auch durch „Einfachheit, Bedürfnislosigkeit und Genügsamkeit“ ersetzen. Und die Lehre für uns, die wir wissen wollen, wie wir den Armen eine Last abnehmen: Einfachheit soll die Lebensweise sein, in der ich mich den Armen am nächsten fühle und ihnen gegenüber am ehesten gerecht sein kann. So kann uns der Kampf gegen die Armut, der ja nicht aufhört, auch die Rückkehr erleichtern zur Einfachheit oder zu einer Form d er Askese.

Das Buch vermeidet Rührseligkeit. Es ist auch ein Manifest gegen den Wachstumszwang, wie wir es in Europa dringlich brauchen. Diese Botschaft der Einfachheit geht nur an die, die „keinen akuten Mangel leiden, deren Grundbedürfnisse erfüllt sind“.

Wie, wir sollten das Wachstum eingrenzen? Wie das, wo alles in Wirtschaft, Politik und Beruf auf Wachstum und nur auf Wachstum setzt? Kämpchen zieht die Lehren aus dem, was ihm indische Praxis des Mahatma Gandhi und Weisheit des Rabindranath Tagore empfehlen: „Was brauchen wir wirklich? Wieviel brauchen wir an Nahrung, Kleidung, an Unterkunft, an Arbeit, an Gemeinschaft mit Menschen, an Gesundheit, intellektuellem Wissen und kulturellen Gütern“. Und, noch schärfer: „Was brauchen wir für unsere Zufriedenheit?“

Das sind Fragen, die in Europa ganz neu aufbrechen und die uns emanzipieren. Wir müssen nicht warten, bis eine neue Regierungskoalition mit dem Wachstumszwang und der Erhöhung des Wachstumstempos aufhört? Gar nicht, wir müssen beginnen bei uns selbst.

Einfachheit ist dann erreicht, wenn wir  so viel in uns erlauben, das wir mit jedem Menschen und jeder Situation eine unmittelbare Beziehung aufbauen können. Und die Kraft der Natur – die wir in Europa unseren Kindern und uns selbst nicht mehr gönnen, ausschöpfen. Die Rose im eigenen Garten habe eine Kraft, „die vom Ursprung unser aller Leben stammt.“

Als Christ sagt er noch: Meine Bemühungen um die Armen dort, wo ich gerade stehe, bleiben in der großen geistigen Ökonomie der Menschheit nicht ohne Einfluss.

Quelle:

Rupert Neudeck 2011

Grünhelme 2011

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