Rabindranath Tagore “Gedichte und Lieder”- in “Christ in der Gegenwart”

Christ in der Gegenwart

Nr. 23 / 5. Juni 2011

Tagore, Rabindranath: Gedichte und Lieder Aus dem Bengalischen übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Kämpchen
(Insel Verlag, Berlin 2011, 152 S., 22,90 €).

 

Auch bedeutende Dichter können in Vergessenheit geraten. Aber irgendwann tauchen sie wieder auf, und ihre Worte beginnen von neuem zu leuchten. Seit Jahren setzt sich Martin Kämpchen für den vor 150 Jahren geborenen großen bengalischen Lyriker Rabindranath Tagore ein, der auch Dramatiker war, Sänger, Tänzer, Sozialreformer und Schulgründer. Als erster Asiate bekam er den Literatur-Nobelpreis, und bei der Lektüre seiner Gedichte und Lieder spürt man schnell, wie nah er uns weiterhin ist. Tagores Selbstbeobachtung geschieht – wie bei Augustinus – im Angesicht eines absoluten Gegenübers, und Gott wird sehr persönlich angesprochen. Auch Tagore leidet unter dem Zerfall einer altehrwürdigen Kultur, der Auflösung einer Gesellschaft , die immer noch die tragenden Formen weitergegeben hat.

„Allein kann ein Sänger nicht singen, er bedarf des zweiten. / Laut singt einer, teilt frei sich mit; der zweite singt tief im Innern. / Erst wenn die Woge am Strand aufprallt, entsteht ein Klang. / Erst wenn die Blätter zittern im Wind, entsteht ein Rauschen. / Sind zwei Kräfte vereint, erschaff en sie einen Ton in der Welt. / Wo keine Liebe wohnt, wo Taube herrschen, kann kein Lied erwachen.”

Aber es ist auch viel Zuversicht in Tagores Versen spürbar, das, was zerfallen soll, auch hinfahren zu lassen. „Drum, was nicht bleiben kann – das soll vergehen.” Und er empfindet es als Trost, dass selbst in der Zeit, die wir als vergeudete ansehen, Gott „den Garten zur Fülle gebracht” haben kann.

Es ist die rechte Stunde, Tagore wiederzuentdecken, denn seine Welthinwendung und Weltfrömmigkeit ruft ein kosmisches Bewusstsein herauf, das wir brauchen. Eine Sehnsucht ist spürbar, dass verkümmerte Organe sensibel werden für das Ganze der Welt, für ihre Schönheit und ihren Zauber. „Mögen die Fesseln der Welt fallen / und die Arme des Kosmos unendlich sich breiten / über meine Seele, damit sie furchtlos erkenne / das Große Unbekannte.”

Mitten im Endlichen soll die Melodie der Unendlichkeit gespielt werden. Diese Dichtung verdient es, wieder wahrgenommen zu werden. Die Übertragungen, bei denen Kämpchen auf den Reimzwang verzichtet, gefallen mir am besten. Die poetische Eleganz und der strömende Fluss des Wortklangs können sich hier besser entfalten als bei den gereimten Strophen, die etwas bemüht wirken.

Otto Betz

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