Rabindranath Tagore “Gedichte und Lieder”- in “FAZ”

Selig sei er gepriesen, aber besser noch gelesen

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.05.2011 Seite 34
Zu Lebzeiten galt er als Heiliger der Weltliteratur, zu seinem 150. Geburtstag wird Tagore weltlich. Das ist gut so: Neue Bücher von ihm und über ihn erschließen uns seine herrliche poetische Stimme.
Paul von Heyse 1910. Maurice Maeterlinck 1911. Gerhart Hauptmann 1912. Und 1913? Rabindranath Tagore. Das schwedische Nobelpreiskomitee war schon vor hundert Jahren für Überraschungen gut, als erstmals ein nichtwestlicher Autor mit der höchsten Auszeichnung der Literatur bedacht wurde. In Deutschland war der am 7. Mai 1861 geborene indische Dichter damals so gut wie unbekannt. Sein von ihm selbst ins Englische übertragener Gedichtband „Gitanjali“, der Anfang 1913 erschienen war und seinen Ruhm in Europa begründete, lag noch nicht in deutscher Übersetzung vor, geschweige denn ein anderes seiner zahlreichen Werke. Erst in den folgenden Jahren änderte sich dies nachhaltig, und Tagores Bücher wurden für kurze Zeit zu regelrechten Bestsellern.Nachverfolgen lässt sich dies anhand von Martin Kämpchens anschaulicher Dokumentation zur Rezeptionsgeschichte des Dichters. Sie stellt dar, wie sich der junge Kurt Wolff Verlag die Rechte an dem schlagartig berühmt Gewordenen sicherte und in schneller Folge zahlreiche Werke auf den Markt brachte. Sie zeigt zudem, dass noch mehr als das Werk die Person Rabindranath Tagore faszinierte. Während seiner Europa-Tournee nach dem Ersten Weltkrieg stattete der Dichter 1921 auch Deutschland einen Besuch ab. Höhepunkt war die Tagore-Woche in Darmstadt, als der Philosoph Hermann Graf Keyserling den indischen Gast als Berühmtheit inszenierte und dieser wie ein Volkstribun täglich zu den Massen sprach. Um Literatur ging es dabei weniger als um interkulturelle Verständigung, sah Rabindranath Tagore doch seit der Nobelpreisverleihung seine Hauptaufgabe darin, Botschafter des Ostens zu sein und für Versöhnung und Weltfrieden zu werben.

Mit wallendem Haar, seinem langen Bart und dem traditionellen indischen Gewand wirkt er auf den Bildern wie ein Exot zwischen den anzugtragenden Honoratioren – und als solcher wurde er auch wahrgenommen. Die gutgemeinte Botschaft oder gar sein reiches Dichtwerk blieb bei so viel Folklore auf der Strecke, wie bissige Zeitgenossen schon damals bemerkten. Meisterhaft und formvollendet ist etwa Thomas Manns Absage an Keyserling, einen Aufruf zur Tagore-Woche zu schreiben, und anlässlich einer Begegnung in München notiert der Lübecker maliziös: „Der Eindruck einer feinen alten englischen Dame verstärkte sich.“ Aber auch empfänglichere Zeitgenossen wie Stefan Zweig oder Kurt Wolff störten sich an Keyserlings trommelnder Inszenierung, nahmen Tagore selbst aber als authentische und beeindruckende Persönlichkeit wahr. Der nach außen hin lächelnde und stets höfliche Gast war gleichermaßen von Unbehagen erfüllt: „Solchen Ruhm, wie er mir gegeben wurde, kann ich gar nicht ernst nehmen.“ Bei seinen weiteren Besuchen in Deutschland 1926 und 1930 wiederholte sich der alte Erfolg nicht, seine Bücher waren nicht mehr gefragt – nicht zuletzt die Inflation von 1923 hatte den Buchmarkt komplett verändert.

Damalige deutsche Leser kannten Tagores Werk nur über den Umweg aus dem Englischen, direkte Übertragungen aus dem Bengalischen gab es nicht. Anders als in vielen europäischen Ländern waren es auch keine prominenten Autoren, die sich dieser Arbeit widmeten, sondern größtenteils Unbekannte – Rilke etwa lehnte eine Anfrage Kurt Wolffs ab. Helene Meyer-Franck, eine Hamburger Gymnasiallehrerin, war die aktivste und beharrlichste deutsche Tagore-Übersetzerin. Werk für Werk bearbeitete sie für den Kurt Wolff Verlag und nahm zusammen mit ihrem Mann Heinrich Meyer-Benfey, einem Universitätsdozenten für Literatur, auch persönlich Kontakt zu Tagore auf. Es ist ein seltsamer Briefwechsel, den Martin Kämpchen und Prasanta Kumar Paul jetzt zugänglich gemacht haben. Eine übergroße Verehrung des beharrlich als „Meister“ angeredeten Dichters bricht sich Bahn, der mit religiösen Versatzstücken bedacht und überhöht wird. Höhepunkt ist ein Brief anlässlich des Besuchs Tagores bei dem Ehepaar, als sich Helene Meyer-Franck mit Maria von Bethanien, die Jesus erwartet, vergleicht, und hofft, dass der Dichter ihr Haus „heiligen“ werde.

Ein zweites Thema, das den Briefwechsel durchzieht, sind die Pläne, auf Einladung Tagores nach Santiniketan zu ziehen und an der dort neu gegründeten Universität zu lehren – Pläne, die letztlich an der restriktiven Visavergabe der Briten scheitern. Tagore beklagt sich zu Recht über „Stacheldrahtzäune“, die die „Freiheit der Kommunikation zwischen den Völkern“ behindern, in einer Welt „politischer Verdächtigung“ mussten seine kosmopolitisch-versöhnenden Pläne scheitern.

Heinrich Meyer-Benfeys umfangreicher Forderungskatalog und sein regelrechtes Fragenbombardement die Universität betreffend machen es aber noch in anderer Hinsicht unwahrscheinlich, dass sich die Übersiedlungspläne verwirklicht hätten. Es ist bezeichnend, dass der sonst höflich-verbindlich antwortende Rabindranath Tagore diese Briefe entweder ignoriert oder an seine zahlreichen Mitarbeiter delegiert hat. Helene Meyer-Francks Bemühen schließlich, Bengalisch zu lernen, um den Dichter direkt aus dem Original übersetzen zu können, blieb fruchtlos, da in den 1930ern nicht an eine Publikation von Tagores Werken zu denken war.

Zu den ersten Übersetzerinnen Tagores zählt Elisabeth Wolff-Merck, die Frau von Kurt Wolff. Das nun neu aufgelegte Schauspiel „Chitra“ erschien noch 1914, also im Jahr nach der Nobelpreisvergabe. Im Original entstand es 1892 und gehört damit dem frühen, lyrisch-verspielten Werk Tagores an. „Chitra“ erzählt die Geschichte einer als Thronnachfolger bewusst männlich erzogenen Frau, die von den Göttern die Gabe gewährt bekommt, ein Jahr lang in „makelloser Schönheit“ zu erscheinen, um damit den von ihr geliebten Helden Arunja zu umgarnen. Der Plan gelingt, trotzdem stellt sich kein Glück ein: Die Titelheldin hadert mit der Maske, die der Geliebte statt ihres eigentlichen Ichs begehrt. So fremdartig das Stück europäischen Lesern in vielerlei Hinsicht erscheint, etwa durch den leibhaftigen Umgang mit Göttern, wie man es aus antiken Dramen kennt, so sehr fügen sich Themen wie Geschlechterdifferenz oder Maskenhaftigkeit wie überhaupt die lyrische Gesamtanlage in die Literatur der Jahrhundertwende ein. Der Übersetzerin sind dabei Stellen von großer sprachlicher Schönheit geglückt.

Das Universaltalent Tagore hat sich in allen Gattungen erprobt, am bedeutendsten dürfte aber seine Leistung als Lyriker sein. Seine poetische Brillanz lässt sich mit einem Bändchen des Insel Verlags entdecken, wiederum von Martin Kämpchen zusammengestellt. Der Indien-Experte und Autor dieser Zeitung wirbt seit Jahren für das Werk Tagores und hat unter anderem eine Monographie zum Leben des Dichters verfasst. Das Spektrum reicht von Liebesgedichten über philosophische Betrachtungen und religiöse Gedichte bis hin zu Selbstreflexionen über die eigene Arbeit und Wirkung. Dem reichen Anhang kann man entnehmen, welche Schwierigkeiten sich beim Übersetzen aufgetan haben zwischen dem Anspruch einer philologisch korrekten und gleichzeitig poetischen Übertragung. Immer wieder wird auf eigene Zusätze oder eine spezielle Form des Originals verwiesen.

Der Band beginnt mit dem Liebesgedicht „An einem Regentag“. Es zeigt exemplarisch die gleichzeitige kulturelle Ferne der Gedichte für den westlichen Leser und ihre allgemeine Gültigkeit. Gut kann man die Gefühlsregungen des lyrischen Ich nachvollziehen, aber es bedarf der Kommentarinformation, dass die Regenzeit in Indien als Zeit der Liebe gilt. Eine melancholisch-gedrückte Stimmungslage, wie man es als Europäer gewohnt ist, ist mit dem Regen also nicht verbunden. Reizvoll sind auch die zahlreichen Kindergedichte oder die Reflexionen des alt gewordenen Dichters, der auf sein Leben zurückblickt und die Feier der Natur als eines seiner Grundmotive präsentiert.

Was lässt sich heute, hundertfünfzig Jahre nach der Geburt und siebzig Jahre nach dem Tod Tagores, mit dessen Werk anfangen? Vielleicht kann es uns trösten, das jedenfalls erklärt uns Kämpchen. Der Dichter erfülle ein „ in uns schlafendes Bedürfnis nach ekstatischer Freude, mystischer Suche und Sehnsucht nach Natur, Kosmos und Transzendenz“.

THOMAS MEISSNER

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