Rabindranath Tagore “Das goldene Boot” – in “NZZ”

Neue Zürcher Zeitung
Samstag, 3. Juni 2006

Eine Werkauswahl stellt das facettenreiche Schaffen des indischen Nobelpreisträgers vor

Auf der Liste der Literaturnobelpreisträger von 1901 bis 1929 findet sich nur ein einziger Nichteuropäer: Rabindranath Tagore. Eine Auswahl seiner Werke gibt nun Einblick in das Schaffen und die Anliegen des indischen Dichters.

Von Peter Schreiner

Der bengalische Dichter Rabindranath Tagore (1861-1941) ist für Bengalen «der Dichter» (kabi) schlechthin. Er verdankt diesen Ehrentitel in erster Linie seinem lyrischen Werk. Aus der Sicht der bengalischen Tradition schreibt ein Dichter eben Gedichte (und kabi ist also mit «Lyriker» zu übersetzen) und erst in zweiter Linie Dramen, Kurzgeschichten, Romane, Essays, Briefe. Tagore, der keine formale Schulbildung genossen hat, sondern als Sohn einer wohlhabenden und aufgeschlossenen Familie von Landbesitzern Privatunterricht genoss, begann seine literarische Tätigkeit mit Gedichten und Liedern, denen bald erste Theaterstücke folgten (die oft für die Produktion im Kreis der Familie geschrieben waren). Es sind die Gedichte, für deren deutsche Übersetzungen Martin Kämpchen, der nun mit «Das goldene Boot» eine grössere Anthologie von Tagores Werken ediert hat, bekannt geworden ist. Er präsentiert seine Auswahl in chronologischer Anordnung. Dies ermöglicht und ermutigt den Versuch, Person und Werk im Kontext ihrer Geschichte zu sehen und zu reflektieren.

Kämpchen charakterisiert die verschiedenen Stilrichtungen, die alle in dieser Anthologie vertreten sind, als liedhaft-lyrisch oder episch-hymnisch, dramatisch oder narrativ-balladesk, aphoristisch oder gewunden-verschachtelt, alles zu seiner Zeit und doch nie einander streng ausschliessend. Romantisch-idealistische Träumereien stehen neben Kinderreimen oder Nonsensgedichten und «existenzialistischen oder verzweifelten Altersgedichten».

VIELFÄLTIG UND INNOVATIV

Vielfältig im Ton, innovativ in der Form, sind Tagores Gedichte eine Herausforderung für jeden Übersetzer. Tagore war eher frei, sehr frei, wenn er sich selber übersetzte. Martin Kämpchen dagegen bleibt so nahe am Original wie möglich. Die Übersetzungen benutzen den Endreim, wo Tagore ihn benutzte, auch wo er heutigen Ohren nicht innovativ klingen mag; und sie folgen Tagore im Gefühl für Rhythmus – Rhythmus der Sprache und des Gedankens, Form geworden auch in Zeilenfall und Layout. «Mein Gedanke, der frei sich aufwärts schwang, kehrt heim in meinem Gesang», heisst es in «Sphulinga». Das ist nicht mehr als ein Funke (so die Wortbedeutung von sphulinga), aber eben programmatisch, insofern Gedanke, Sprache und Musik eins werden sollen und eins werden wollen in dieser Lyrik.

Zu entdecken gibt es in diesem Zusammenhang die Kluft zwischen dem klassischen Rabindranath Tagore und dem «anderen Tagore», der durch Gedichte der letzten Lebensphase in den Übersetzungen von Lothar Lutze und Alokeranjan Dasgupta vertreten ist. Heftiger, krasser in der Wortwahl, ungeschönter im Blick über Welt, Natur, Mensch und im Blick auf den Menschen (sich selbst?) in der Welt und in der Natur. Es ist einer der nachhaltigen Gewinne dieser Sammlung, dass man jede Literaturgattung und jede Lebensepoche im Lichte der anderen noch einmal und dadurch neu lesen und entdecken kann. So mögen z. B. die Lieder im Licht der späten Gedichte zwar nicht «existenzialistisch» werden, aber ihre gelebte und erlebte Echtheit glaubt man ihnen dann viel eher. Dass den lyrischen Einlagen in den Dramen und den Liedertexten die musikalische Dimension fehlt, die für die Tagore-Rezeption in Bengalen sehr prägend ist, mag als Erinnerung daran dienen, dass noch nicht einmal die Literaturgattungen eins zu eins übertragbar sind.

Die Literaturgattung der erzählenden Prosa ist durch einen Kurzroman («Das Quartett») und zwei Erzählungen repräsentiert, «Der Postmeister» (1891) und «Der Mann aus Kabul» (1882), übersetzt von Hans Harder. Obwohl aus der Perspektive eines Mannes geschrieben, thematisieren die beiden Geschichten die soziale Situation und das Schicksal von Frauen. Dass sie den Leser bewegen, lässt vermuten, dass der Dichter eine solche Wirkung der Literatur bewusst einsetzte und anstrebte und dadurch den Umgang mit den sozialen und religiösen Realitäten seiner Zeit verändern wollte.

Von den zwei Theaterstücken ist «Das Postamt» (1911), hier neu übersetzt von Martin Kämpchen, ein «Klassiker»; eine erste deutsche Übertragung erschien schon 1918. «Das Kartenland» (1933) ist ein Alterswerk Tagores, eine satirische Komödie, deren Botschaft – Protest gegen Diktatur und Bürokratismus – zwar universal sein mag, deren Form und Sprache aber sehr viel schwerer «übertragbar» sind: eine Herausforderung, der Kämpchen auch hier, wie bei den Gedichten, nicht ausgewichen ist.

DIE HEIMAT, DIE WELT

Literatur einer wiederum ganz anderen Art sind die Essays, von denen die bengalischen in der Übersetzung von Rahul Peter Das abgedruckt sind. Im Hinblick auf die historische Perspektive bei der rückblickenden Kontextualisierung, zu der diese Anthologie ermutigt, ist es vielleicht schade, dass hier das Prinzip der chronologischen Anordnung aufgegeben wurde. Auch wenn die Textgattung des Essays erst durch Tagore als «Literatur» Anerkennung gefunden haben mag: Es überwiegen hier Inhalt und Botschaft gegenüber der sprachlichen Form.

Tagores Indien- und Weltbild ist eine Einheitsschau, deren religiöse Programmatik über vielleicht problematische historische Verallgemeinerungen hinwegsieht. Religion, Kultur, Natur, Leben und Sterben, Mensch und Gott sind universelle Grössen und Begriffe, desgleichen Werte wie Harmonie, Schlichtheit, Würde, Stolz – auch wenn die Anlässe und Bilder, die der Dichter zu ihrer Illustration beizieht, zum Lokalkolorit gehören: Das goldene Boot hat Reis geladen, nicht Weizen oder Mais. Tagore hat seine Botschaft zuerst und in erster Linie auf Bengali formuliert. Und wenn er in den bengalischen Essays von Europa, vom Westen, vom Christentum spricht und eine Perspektive der Begegnung schafft, die er durch seine Reisetätigkeit auch gelebt hat, dann natürlich für bengalische Leser, nicht für deutsche. Und auch in Tagores Heimat ist Bengali keine panindische Sprache, sondern «nur» die traditionsreiche Sprache einer auf ihre Tradition und ihre Eigenarten stolzen Volksgruppe und Region.

Die Besinnung auf die aus gesamtindischer Perspektive regionalen Eigenarten von Tagores Werk entspricht allerdings gar nicht Tagores eigener Perspektive. Er stellte Indien als Repräsentanten Asiens und des Ostens pauschal dem oder einem «Westen» gegenüber. Dass man Indien, Japan und China nicht über einen Kamm scheren kann, hat er auf seinen Auslandsreisen lernen müssen; dass er die sprachlichen und kulturellen Unterschiede innerhalb Indiens auf gleiche Stufe gestellt und entsprechend differenziert hätte, ist jedoch zweifelhaft. Zu erforschen wäre auch, inwieweit ihm die qualitativen Unterschiede der Tagore-Rezeption beispielsweise in England und Deutschland bewusst waren und er also «den Westen» und seine literarischen Traditionen und religiösen Erwartungen zu «regionalisieren» vermochte.

Dass frühe Tagore-Übersetzungen ins Deutsche fast alle aus dem Englischen besorgt wurden, verwischte regionale und sprachliche Unterschiede in der Tagore-Rezeption natürlich ebenfalls. Insofern ist es erfreulich und programmatisch, dass in diesem Band die Texte direkt aus dem Bengali übersetzt wurden. Gelegentliche Hinweise auf Stilunterschiede im Bengalischen im Anhang machen neugierig aufs Original, und das ist sicher gut so. Kämpchen selber nennt in den Anmerkungen jene Stellen, wo er aus stilistischen Gründen vom wörtlichen Wortsinn abgewichen ist, was einerseits einen leicht verfremdenden Effekt auf die Abgeschlossenheit der Übersetzungsarbeit hat, andererseits aber als Erinnerung daran, dass keine Übersetzung das Original ersetzen kann, ebenfalls willkommen ist.

REFORMIDEEN

Anders als die bengalischen Essays waren die englischen (hier in der deutschen Übertragung von Axel Monte) von vornherein an ein nicht- indisches, vorwiegend westliches Publikum gerichtet – vorwiegend, da Tagore ja auch in China und Japan Vorträge gehalten hat, deren Thematik und Botschaft nicht grundsätzlich anders waren. Rabindranath Tagore steht aufgrund seiner Herkunft in einer Tradition bewusster, engagierter Reaktion auf die Begegnung mit «dem Westen», konkret mit den britischen Kolonialherren und ihren christlichen Missionaren.

Sein Grossvater Dwarkanath Tagore (1794-1846) und sein Vater, Debendranath Tagore (1817-1905), waren Leitfiguren der Reformbewegung des Brhmo Samj. Diese Bewegung hatte sich die christliche Kritik am «Götzendienst» der populären Religion zu eigen gemacht und nach den Wurzeln eines «wahren» (mono) theistischen Hinduismus in der Philosophie der Upanischaden gesucht. Die indische Weisheit, welche Rabindranath Tagore dem Westen anzubieten hatte, war also bereits «vermittelt» durch die indische Bereitschaft, auf (westliche, christliche) Kritik einzugehen und einer in dieser Kritik enthaltenen Erwartungshaltung zu entsprechen.

Mit seiner Naturliebe (und Naturmystik) überwindet Rabindranath die etwas blasse Abstraktheit der Theologie Brhmo Samjs. Mit dem literarisch verpackten Engagement für Sozialreform und Erneuerung füllt er die eher legalistischen frühen Erfolge (z. B. das Verbot der Witwenverbrennung, das Verbot von Kinderheirat, den Einsatz für die Wiederverheiratung von Witwen) mit Leben. Auch wenn man ihn nicht ohne den Hintergrund der Geschichte des Reformhinduismus verstehen kann, so gehört er doch vor allem in die viel weitere Bewegung dessen, was man «Bengal Renaissance» genannt hat. In diesen Essays wird also der auf Indien gerichtete Blick des Westens einerseits erwidert, andererseits in den Blick eines seine Epoche repräsentierenden Dichters auf Indien übernommen. Rabindranath lebte und verkörperte nicht nur als lyrisches Subjekt sein Werk. Mit der progressiven Schule, die er 1901 in Santiniketan gründete und die später zu einer Universität ausgebaut wurde, versuchte er zu verwirklichen, was er predigte. Die Einheit von Person und Werk tritt naturgemäss in den Briefen und in den Aufzeichnungen der Gespräche mit Albert Einstein besonders deutlich zutage.

EDITORISCHE LEISTUNG

Ein wesentlicher und gehaltvoller Teil des Buches ist der Anhang. Eine biografische Skizze und Anmerkungen zu «Rabindranath Tagore und Deutschland» stehen zwar auf Wunsch des Verlages im Anhang, sollten aber wohl eher als Einleitung gelesen werden. Die Anmerkungen erläutern Details des Lokalkolorits, geben aber auch Hinweise auf den Entstehungszusammenhang und Anstösse für die Interpretation, was diese 120 Seiten Anhang wichtig und unverzichtbar macht. Angesichts des Umfangs von Tagores Gesamtwerk hätte man gern mehr über die Kriterien der Auswahl der übersetzten Beispiele gewusst. Die Lyrik ist am umfassendsten repräsentiert; aber warum gerade diese beiden Theaterstücke (von mehr als 100), diese beiden Kurzgeschichten, diese Briefe (aus mindestens 12 Bänden)?

Bei dem Anspruch, mit dieser Anthologie den deutschsprachigen Lesern jene Werke zugänglich zu machen, die Weltliteratur zu sein oder zu werden verdienen, hätte die literarische Würdigung hier etwas umfassender, kritisch relativierend sein können. Auch Bengali ist nicht immer und überall in Bengalen dasselbe. Die Originaltexte wollen Weltliteratur sein, nicht die Übersetzungen. Hier wird sehr originalgetreu übersetzt, im Gegensatz zu Tagores eigenen Übertragungen ins Englische (die schon «Weltliteratur» sind). Erwarte ich, dass deutsche Weltliteratur anders klingt? Sie müsste sich an der deutschen Literatur ihrer Zeit messen, so wie Tagore an der bengalischen Literatur seiner Zeit gemessen wird.

«Das goldene Boot» ist der Titel eines Gedichts aus einer gleichnamigen Gedichtsammlung, welche Tagore im Jahre 1894, also im Alter von etwa 33 Jahren, veröffentlichte. Tagore will hier die Situation des Menschen zur Zeit seiner Lebensernte angesprochen sehen. Der Mensch übergibt den Ertrag seines Lebens an die Gesellschaft als Geschenk, aber er selber bleibt zurück. Identifikation mit dem eigenen Werk wäre Egoismus und würde es zerstören. Natürlich konnte Rabindranath Tagore nicht wissen, dass er 80 Jahre leben würde, aber die Perspektiven des Rückblicks, die sich da überlagern, mögen uns heute zu denken und zu fragen geben, wenn wir die vorliegende Anthologie in die Hand nehmen.

Der 33-Jährige konnte offensichtlich schon auf eine Art Lebenswerk zurückblicken; aus indischer Perspektive wurde diese Literatur erst im Nachhinein zu Weltliteratur, denn es gab sie ja schon jahrzehntelang auf Bengali, bevor der Dichter einiges davon in englischer Übersetzung dem Westen zugänglich machte. Wenn wir jetzt, fast hundert Jahre später, in die glückliche Lage versetzt werden, Tagore in neuen deutschen Übersetzungen zu lesen, rezipieren wir bengalische Literatur, welche der Verlag programmatisch in eine Reihe mit «Weltliteratur» aufgenommen hat, und wir rezipieren diese Literatur also im Licht ihrer Wirkungsgeschichte.

Wer den Ozean der 27 Bände der gesammelten Werke von Rabindranath Tagore (1861-1941) überqueren will, wird dankbar sein, wenn sich ein Boot findet, das ihn tragen, und ein Steuermann, der ihn führen kann. Das goldene Boot lässt seinen Autor zurück, vielleicht auch die Übersetzer. Geht es darum, ein Erbe zu bewahren? Oder eine Vergangenheit zu bewältigen? Beides darf man getrost dem goldenen Boot überlassen, welches damit zu neuen Ufern aufbricht. Als Leser haben wir nur etwas ins Boot zu laden, wenn wir uns der Begegnung mit dieser Dichterpersönlichkeit, der Sprache Bengali, dem geschichtlichen, sozialen, kulturellen Kontext dieser Literatur und ihrer Botschaft stellen. Martin Kämpchen hat dies vorbildlich getan, erarbeitet, gelebt. Er hat wohl bewusst die Übersetzung in so ein goldenes Boot gelegt. Bleibt zu wünschen, dass es gut ankommt! Es lohnt sich allemal, als Leser dem goldenen Boot die eigene Ernte in Form der Lesefrüchte anzuvertrauen.

Rabindranath Tagore: Das goldene Boot. Lyrik, Prosa, Dramen, herausgegeben von Martin Kämpchen. Artemis & Winkler (Patmos-Verlag), 2005 (Winkler Weltliteratur). 669 S.

Peter Schreiner leitet die Abteilung für Indologie des Indogermanischen Seminars an der Universität Zürich.

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG

 

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

68 − = 66

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>