Martin Kämpchen
Versuch über die Muße
Eine indische Antwort auf Josef Pieper
Udo Keller zum 70. Geburtstag in Dankbarkeit
Ein Forum der Josef Pieper Stiftung
Schriften der Akademie Franz Hitze Haus XIV
hg. von Hermann Fechtrup, Friedbert Schulze und Thomas Sternberg
Münster 2011
IISBN 3-930322-58-7
Verlag der Akademie Franz Hitze Haus
Kardinal-von-Galen-Ring 50, D-48149 Münster
Tel.: 0251-9818-0; Fax: 0251-9818-480
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Vortrag der Josef-Pieper-Stiftung, gehalten in der Akademie Franz Hitze Haus, Münster,
am 25. März 2011
Die Josef Pieper Stiftung wurde 1991 als gemeinnützige Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Bildung in Münster gegründet. Josef Pieper (1904–1997) lehrte als international renommierter Philosoph und Schriftsteller in Münster. Ein Freundeskreis unterstützt die Ziele der Stiftung, die in der Durchführung und Förderung von wissenschaftlichen und allgemein bildenden Veranstaltungen und Forschungsvorhaben liegen, „die das in der europäisch-christlichen Tradition entfaltete Bild vom Menschen und der Schöpfung verdeutlichen und unter den Bedingungen von Gegenwart und Zukunft weiterführen“. Nähere Informationen unter www.josef-pieper-stiftung.de.
1
Muße heißt, mit gutem Gewissen den Gedanken freien Lauf lassen; Muße heißt, unangestrengt den Gefühlen und der Phantasie erlauben, Assoziationen zu weben und zu flechten – in dem Bewusstsein, dass dies gut ist für die Gesamtverfassung des Menschen.
Es ist diese Großzügigkeit, diese Großherzigkeit, die unsere abendländische Auffassung von Muße prägt und in einen weiten geistigen Raum stellt, den sie in Freiheit ausfüllt.
In Indien wollen die Schulen des Yoga diese spielerische Freiheit nicht dulden. Im Gegenteil, der Yoga trachtet danach, Gedanken, Gefühle und Phantasie zu kanalisieren, zu zügeln und zu vermindern. Das Ziel ist, sie insgesamt zu unterbinden. Wie heißt nämlich der zweite Lehrsatz (sutra) des Patañjali in seinem grundlegenden Yoga-Leitfaden:
„Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen.“[i]
Das also ist eine – erste, vorläufige – Antwort Indiens auf die Muße, die Josef Pieper als „eines der Fundamente der abendländischen Kultur“[ii] feiert: Muße ist unerlaubtes „Sich-Gehen-Lassen“. Sie steht im Gegensatz zu der Errungenschaft Indiens, dem Yoga. Vom strengen Yoga aus gesehen, muss diese Freiheit der Muße als eine Schwäche ausgelegt werden. Die Muße sieht wie eine Entspannung schon vor dem Ziel aus, wie eine unnötige Verlängerung des Weges zum Höhepunkt der Ruhehaltung.
Allerdings ist in Indien nicht alles Leben strenger Yoga. Die „Ruhe“ der yogischen Gedanken- und Gefühlsleere wird nicht als Zustand postuliert. Sie ist ein Höhe- und Endpunkt, der nur nach lang währender Übung erreicht werden kann und nicht von Dauer ist. Auf dem Weg zu diesem Höhepunkt sowie danach ist Muße möglich und auch notwendig. Allerdings hat Indien dafür keinen exakt entsprechenden Begriff formuliert.
In meinem „Versuch“ jedoch möchte ich, dass sich die europäische und die indische Lebenshaltungen annähern und in einen Austausch treten. Darum postuliere ich: die Muße ist eine notwendige und gesunde Stufe vor der inneren Ruhe. Muße ist – so betrachtet – eine Vorbereitung auf den seelisch-geistigen Ruhezustand des Yoga.
Wir können uns zwei gegensätzliche Zustände vorstellen, von denen es keinen unmittelbaren Weg zur Einübung in die yogische Ruhe gibt. Der eine Zustand ist die Zerstreutheit, bei der alle Kräfte des Verstandes und Gefühls unfokussiert und richtungslos zerfließen und die keinerlei solide innere Verfassung und auch keine entschiedene äußere Tat erzeugen kann.
Der zweite Zustand ist die intensive Tätigkeit – sei es angestrengte Arbeit oder emotionale Erregung. Es ist undenkbar, von diesen beiden Extremzuständen ohne Vorbereitung in die Ruhe des Yoga zu gelangen.
Darum brauchen wir also ein Zwischenstadium, das zwischen dem Ungeordneten oder dem innerlich Intensiven und Erregten auf der einen Seite und dem Konzentrierten, Geeinten und Beruhigten auf der anderen vermittelt.
In einem solchen Zwischenstadium hat die Muße ihren Raum. Sie vertritt eine seelisch-geistige Gebundenheit, die so gefestigt ist, dass sie nicht in die Gefahr kommt, entweder in Zerstreuung oder innere Intensität und Erregung zu fallen. Muße fühlt sich sicher. Gleichzeitig ist Muße frei und beweglich genug, dass sie nicht den unwiderstehlichen Sog spürt, in eine größere Verengung seiner Gebundenheit zu geraten, die im Einssein des Yoga münden würde.
Sodann füllt Muße auch den Raum nach dem Zustand der Konzentration und Ruhe aus, wenn Seele und Geist aus der yogischen Ruhe aufgetaucht sind und die Welt um sich wieder mit den Sinnesorganen wahrnehmen. Die Beruhigung von Gefühlen und Gedanken bleibt nachhaltig spürbar, und der Mensch möchte sie so lange wie möglich in sich bewahren. Hierbei hilft die Muße, die diesem Menschen vor einer schmerzlichen Konfrontation mit zu viel und zu aufdringlicher Wirklichkeit schützt, indem sie nur ein behutsames Maß an Welt und zwar in Form von harmonischen Gefühlen und Gedanken hereinlässt.
Der Yoga des Patañjali ist weniger eine Philosophie, als ein Leitfaden zur praktischen Einübung in jenen mentalen Beruhigungs- und Leerzustand, in dem sich Seele und Gott begegnen können. Auch die philosophische Lehre des Vedanta spannt sich unmittelbar vom Menschen hin zum göttlichen Grund des Seins, ohne einen Übergang, ohne eine vermittelnde Zone. Was zwischen dem Menschen und Gott steht, gilt, philosophisch gesehen, nicht als eine Vorbereitung auf den Seinsgrund, sondern als māyā, als mindere Wirklichkeit, als Schein, Täuschung, Lüge, als etwas, das rasch erkannt und überwunden werden soll. Alles was nicht Gott und nicht göttliche Seele ist, gilt als māyā.
Wer jedoch in Indien lebt und die Glaubenspraxis beobachtet, dem wird klar, dass auch der Hinduismus jenen Bereich, der zwischen Mensch und Gott vermittelt, sehr wohl besitzt und nutzt. Die Vedānta-Philosophie ist lediglich ein System, das trocken und schematisch die Beziehungen zwischen Gott, Menschen und Welt definiert, jedoch nicht die Lebenspraxis beschreibt. Wie sieht dieser Zwischenbereich im Hinduismus aus?
Indien kennt viele Formen des heiligen Spiels (līlā), bei dem sich Gott und menschliche Seele im vielschichtigen Austausch befinden. Im Christentum kennen wir die Liturgie und vor allem die Feste als heiliges Spiel. Auch im Hinduismus besteht die Grundstruktur eines jeden Gottesdienstes (pūjā) in den Tempeln oder an den Hausaltären der Familien aus einem heiligen Spiel: Die Gottheit wird rituell eingeladen, in der Statue „einzuziehen“ und Wohnung zu nehmen. Daraufhin wird Gott in der Statue so behandelt wie Hindus einen hohen Gast verehren würden. Zunächst werden ihm ein Bad angeboten und neue Kleider, er wird gekämmt und geschmückt, ihm wird Luft zugefächelt und Weihrauch. Danach reicht der Priester ihm Speise und Trank. Zum Schluss entlässt der Priester oder die Priesterin den Gast in Ehren, etwa mit Liedern, Muschelblasen und Trommelschlägen
Spielerisch fromm, geradezu verspielt, sind andere Verehrungsformen in dieser Religion. Etwa um den mythischen Gott Krishna anzubeten, versetzen sich dessen Verehrer in die Rolle seiner mythischen Geliebten Rādhā: Als Rādhā verehren und lieben die Menschen Gott Krishna; oder als Krishna verehren sie Rādhā. In den Verehrungsweisen sind stets viel Phantasie tätig, um die Liebe zu Gott zu hoher emotionaler Intensität, zu ekstatischer Begeisterung zu treiben. Gottesliebe ist heiliges Theaterspiel. Musik, Gemeinschaftsgesang, Rollenspiel, Litaneien sollen helfen, diese Begeisterung zu entfachen. Vielfältig und lebensbunt verwirklichen die hinduistischen Frommen ihre Beziehung zu Gott.
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Als Student bekam ich Josef Piepers schmale Schrift Muße und Kult in die Hand; sie stammt aus meines Vaters Bibliothek in Boppard. Es handelt sich um ein Exemplar der ersten Auflage („Erstes bis fünftes Tausend“) von 1948. Auf der ersten Seite steht in Bleistift meines Vaters Namen in dessen Handschrift und der Vermerk „Sept. 1948“. Offensichtlich hatte sich mein Vater dieses Buch sogleich nach Erscheinen gekauft.
Ich war Student in Wien, als ich Anfang der 1970er Jahre dieses Buch in die Hand bekam, sehr ein Suchender, aber noch war ich nicht auf indische Philosophie gestoßen. In Wien litt ich unter der Anonymität des Wissenschaftsbetriebs. Auf mich allein gestellt, fühlte ich mich in der großen Stadt und der riesigen Universität nicht vorbereitet auf die Komplexität der Welt. Nirgendwo fand ich bestätigt, dass ich als Individuum liebenswert und meine Leistung als Student vielversprechend war. Es war eine verzweifelte Anfangszeit. Mit Albert Camus stellte ich mir die grundsätzliche philosophische Frage, welchen Grund es gebe, keinen Selbstmord zu verüben[iii]. Ich war bereit zu mühevoller Arbeit, zum engagierten Lesen, zur bemühten Aneignung der kulturellen Schätze. Doch womit beginnen? Und wie beginnen?
Mehrere Ereignisse und einige Bücher halfen mir, meine Lebenshaltung zu formen. Eines der Bücher war Josef Piepers Muße und Kult. Ich erinnere mich, wie tief mich damals diese kleine Schrift bewegte, weil sie mir durch das Wort „Muße“ einen Inspirativbegriff schenkte, aus dem ich einen Weg finden konnte aus der Orientierungslosigkeit, in die mich das Gymnasium entlassen hatte.
Mir wurde gezeigt, dass die europäische Leistungsgesellschaft, in der ich mir verloren vorkam, ursprünglich aus Quellen schöpft, die dem äußerlichen, messbaren Leistungsdenken widersprechen. Dass dies abendländische Quellen sind, die gerade jene noch halbgeformten Menschen fördern können, die die Sehnsucht nach Vollendung spüren, ohne noch zu wissen, wie diese Vollendung aussehen kann. Das sind Quellen, die nicht den Anspruch erheben, eine Theologie zu sein, die jedoch eine Lebensweise, eine Weltanschauung anbieten. Durch sie mögen die Suchenden dann zu einem theologischen Verständnis und zum Glauben hingeführt werden.
Der Trost, der aus diesem Buch floss, war fruchtbringend. Die Unterscheidung von ratio und intellectus, also von diskursivem Denken und intuitivem Erfassen, war für mich eine grundlegende Einsicht. Der Begriff des „einfachen Schaublicks“, den Pieper schuf, um den Auftrag des intellectus zu charakterisieren, zeigte mir, dass geistige Einsicht nicht so sehr auf harter Arbeit und überragender Intelligenz beruht, sondern wesentlich ein „Geschenk“ ist, das durch „Mühelosigkeit“[iv] erworben wird. Jene empfangen dieses Geschenk am ehesten, die sich für Einsichten und Erkenntnisse rückhaltlos öffnen und sich danach auf eine geduldige Bereitschaft zum Empfangen verstehen.
Als Student in den ersten Semestern war mir besonders wichtig zu erfahren, dass Intuition, Wahrheitserkenntnis, das „gute Leben“ nicht allein durch die fleißige Lektüre schwieriger Bücher, durch Leistung in Seminaren und selbstbewusstes Auftreten zu erlangen waren, sondern eben durch Liebe – Liebe zur Wahrheit und Liebe zu den Menschen. Piepers Ausspruch, in Anlehnung an Thomas von Aquin, dass die größten Taten jene seien, die aus Liebe ganz mühelos gelingen,[v] rettete mich.
Ich fertigte mir ein vierseitiges Exzerpt aus dem Buch an, halb mit Schreibmaschine, halb mit Hand geschrieben, und legte es zu meinen Papieren, die ich 1973 nach Indien mitnahm. Das Exzerpt gehörte zu jenem Vademecum von zwei Dutzend Büchern und einer Mappe von Mitschriften, ohne die ich glaubte, nicht längere Zeit in Indien leben zu können, trotz aller Bereicherung, die mir dieses Land versprach. Bis heute ist das Exzerpt in meiner Mappe, inzwischen vergilbt und fleckig.
3
Muße soll nun als ein – anfangs so genanntes – „Zwischenstadium“ und Vorbereitungsstadium genauer umschrieben werden. Denn auf dieses „Dazwischen“ kommt es mir hier an: auf den Bereich zwischen dem weltlichen Alltag und der Absorption in Gott. Die indische geistige Praxis lässt – wie wir sahen – diesen Zwischenbereich zu, als „Spielwiese“, auf der Gott und menschliche Seele sich annähern und kennenlernen. Josef Pieper schreibt zwar nicht von einem solchen Zwischenstadium, doch fügt sich dieses Konzept in sein Verständnis der Muße ein. Dieses Zwischenstadium ist nämlich entfernt vom diskursiven, angestrengten Denken und ist ebenso weit entfernt vom angestrengten Arbeiten und Nützlichkeitstun.
Als erstes gebe ich zu Bedenken, dass Muße nur möglich ist, nachdem man zuvor nicht müßig war. Wenn Pieper (mit Aristoteles) schreibt „Wir arbeiten, um Muße zu haben“[vi], dann möchte ich diesen Satz verschärfen und sagen: Nur nachdem wir mit Konzentration und Konsequenz und Befriedigung gearbeitet haben, sind wir zur Muße fähig und berechtigt. Zerstreute, fahrige, häufig unterbrochene, lustlose und unbefriedigende Arbeit erteilt nicht die innere Berechtigung zur Muße. Eine solche Arbeit wird man höchstens abbrechen, nicht jedoch mit einem Gefühl des Erfülltseins abschließen können. Abgebrochen, hängt man dieser Arbeit nach, um das Versäumte, die gesammelte Arbeit, doch noch zu erreichen und nachzuholen. Die sich in dieser Situation erschöpft zur Muße zurückziehen wollen, finden sie nicht, weil sie das Bedauern über die unbefriedigende Arbeit belästigt. Also: die Qualität der Arbeit bestimmt die Qualität der Muße.
Im Abendland entsteht eine tiefere Berechtigung zum Wechsel zwischen Arbeit und Muße aus dem Wort der Genesis: „Am siebten Tage ruhte er…“. Darum darf auch das menschliche Leben in einem Rhythmus von Arbeiten und Muße verlaufen. Dieser Rhythmus ist eingebettet in die kosmischen Rhythmen von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, vom Werden und Vergehen der Natur, in die Rhythmen von Einatmen und Ausatmen, Wachen und Schlafen. Das Genesis-Wort legt auch fest, dass diese Schöpfung und ihre Rhythmen nicht als māyā, als spielerischer Betrug des Schöpfers niedergeredet werden. Im Gegenteil, die Schöpfung ist „gut“. Beides ist also gut: Arbeiten und Nichtarbeiten. Aber aus Nichtarbeiten kann eben nur dann Muße entstehen, wenn gute Arbeit vorausging.
Muße stellt sich also nur dann ein, wenn der Mensch die Fähigkeit zur konzentrierten Arbeit besitzt, gleichzeitig aber auch die innere Freiheit hat, diese Konzentration nicht bis zur Erschöpfung durchhalten zu wollen. Muße haben setzt voraus, dass der Mensch dann innehält, wenn die seelische Spannung der Muße noch möglich ist. Denn auch Muße bedarf der Wachheit, der Energie. Es ist allerdings eine Energie, die dazu fähig ist, sich selbst zu erneuern. Muße verlangt und schenkt Energie.
Wir haben das Zwischenstadium der Muße auf der Seite der Anstrengung abgegrenzt und verständlich gemacht. Auch von der anderen Seite, dem zerstreuten Leben, will ich Grenzen schaffen. Wir erwähnten schon, dass Muße nicht aus der Zerstreuung kommen kann. Muße ist nicht Erholung: nicht Schlaf, nicht Urlaub, nicht Stammtisch und Skatrunde. Muße ist nicht bequemes Am-Strand-Liegen und nicht Fernsehen. Denn Muße wird im Gegensatz zu dieser gesamten Sphäre – wie gesagt – von einer seelischen Spannung getragen.
Sie ist entfernt von fieberhaften, triebhaften Phantasien, weit weg von Ehrgeiz, Geltungswillen und von Eifersucht, von heftig ausgelebten Enttäuschungen, Abneigungen und Ekelgefühlen – entfernt von Egomanie und jeder Art eines Soges. Muße möchte sich von diesen Leidenschaften erholen und zu ihnen eine bleibende Distanz gewinnen.
Es ist ein Hellwachsein und eine Aufnahmefähigkeit für sinnliche, emotionale und seelische Eindrücke, ein Innehalten und Bereitsein. Muße ist „Kontemplation des Weltlichen“, die aber durchlässig ist zur Kontemplation des Transzendenten.
In der Muße wirkt das assoziative Denken, das beruhigte Phantasieren, das Tagträumerische. Muße genießt diese Freiheit der Assoziationen und der Phantasien, weil sie schöpferisch sind, also zu neuen Konstellationen des Denkens und Fühlens hinleiten und so zu neuen Bewusstseinszuständen und geistigen Erfahrungen.
Nennen wir Beispiele: Das Zwischenstadium der Muße offenbart sich im langsamen, genüsslichen Essen. Essen ohne Gier, womöglich in angenehmer Gesellschaft und Umgebung, ist schönste Muße. Ebenso andere langsame, ohne Konkurrenz-Mentalität ausgeübte Tätigkeiten sind erfüllt mit Muße, etwa Musikhören und Kunstbetrachtung, Wandern, Weintrinken und der Besuch in einem Kaffeehaus, das Erlebnis von Landschaften und anderen Räumen, das Liebesspiel vor dem Geschlechtsakt. Der Mensch hat Muße, der ein Buch ein zweites Mal liest – eben nicht um es kennenzulernen, sondern um es noch feiner und tiefer zu erfassen und sich daran zu erfreuen.
Muße sind bewusst ausgeübte und erlebte, mit Genuss erfahrene Tätigkeiten. Sie leiten hin zum Schauen, Betrachten, Beobachten, zum „einfachen Schaublick“ (wie Josef Pieper schreibt), der schon halb geistige Kontemplation ist und zu ihr aufsteigen kann. Muße lebt in sinnenhaften Bezügen, im verfeinerten sinnenhaften Genießen und hütet sich darum vor immer stärkeren Abstraktionen.
Muße erfährt die sinnenhafte Welt aus einer inneren Distanz. Sie nimmt am Geschehen nicht teil, sondern sie lässt geschehen.
Die Menschen haben Muße, wenn sie einen Kirchenraum, einen bestimmten Platz in einer Stadt, einen Friedhof, einen Park oder einen Garten wieder und wieder besuchen, weil sie darin Kräfte spüren, sich aufgenommen fühlen – obwohl an diesen Orten nichts Neues zu erwarten ist.
Muße hat etwas mit Wiederholung zu tun. Darum auch ihre Nähe zu Ritus und Feier. Muße sucht – wie der Meditierende – nicht das Immer-Neue, sondern erfreut sich an dem Immer-Alten, sie „begnügt“ sich.
Spinnen wir den Faden weiter: Muße verneint das Denken nicht, sie empfindet keine Trauer, wie es etwa George Steiner tut, dessen Essay Warum Denken traurig macht[vii] die Endlosigkeit und Unentrinnbarkeit der Denkvorgänge beklagt. Allerdings heroisiert Muße Ideen auch nicht, denn das hieße, sie festzuschreiben, zu Strukturen und Ideologien zu zementieren. Und das würde sie wiederum zu Instrumenten des Denkens und des Handelns verfertigen, was Muße eben nicht anstrebt.
Muße empfindet sich als Geschenk – nicht nur für die Konzentration und die Arbeit, die getan und mit Zufriedenheit erledigt ist, sondern als Geschenk für die bewusste zeitweise Zurücknahme von Tatwillen und Leistung.
Muße will genießen, ohne zunächst einen Nutzen daraus zu ziehen, als eben diesen Genuss. Aber dieser Genuss soll fein ausgekostet werden. Muße hat nichts mit Hedonismus, nichts mit aggressiver Sinnlichkeit zu tun hat. Muße ist immerzu bestrebt ist, das Maß, den Ausgleich, die Integration zu erreichen. Genießen-Können heißt darum nichts anderes, als das dankbar anzunehmen, was man ohne Gier bekommt, und darin die Fülle zu erfahren. Die Kunst des Genießens ist die Kunst der klugen Bescheidung, nicht die der Gier nach Erlebnissen, die unerreichbar sind oder unklug wären.
Das heißt, Muße nimmt das geistige Schauen und die sinnenhaften Erlebnisse langsam auf, denn genießen ist nur langsam möglich. So wie Wein langsam getrunken werden muß, eine Landschaft nicht mit einem raschen Blick verinnerlicht werden kann, und selbst die Liebe kommt nicht in einer hastigen Ekstase zu Erfüllung, sondern bedarf der sorgfältigen Zartheit und Zuwendung.
Muße wird entwertet, wenn sie auf eine direkte Nutzanwendung abzielt. Muße will im gegenwärtigen Augenblick leben und für diesen Augenblick erleben. Der „Gewinn“ in Form von schöpferischen Gestaltungen stellt sich erst später ein. Das angesammelte Kapital der Muße wird eines Tages seine Früchte hervorbringen, gewiss, aber es werden unvorhersehbare Früchte sein, die zu einer unbestimmbaren Zeit geerntet werden.
All dies bedeutet: so sehr Muße Freiheit und freie Assoziation beinhaltet, sie ist dennoch nicht leicht zu schaffen und zu erhalten. Immer wieder funken diese Blitze des diskursiven Denkens oder des zielgerichteten Wollens dazwischen und wühlen die Muße auf. Martin Heidegger nannte Muße „das besinnliche Denken“. Es „verlangt“, schrieb er, „bisweilen eine höhere Anstrengung. Es erfordert eine längere Einübung. Es bedarf einer noch feineren Sorgfalt als jedes andere echte Handwerk. Es muß aber auch warten können wie der Landmann, ob die Saat aufgeht und zur Reife kommt.“[viii]
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Kehren wir zurück nach Indien. Wir haben die Muße innerhalb des strengen Yoga-Systems und der Vedānta-Philosophie vermisst; wir haben die Muße aber im religiösen Spieltrieb indischer Gottesverehrer gefunden.
Zunächst ein Wort über die Arbeit. Piepers Schreckensvisionen von der totalitären Arbeitswelt, die er in Muße und Kult immer wieder evoziert, haben sich in Europa leider erfüllt. Für Muße gibt es kaum Verständnis und Zeit. Der Raum, den sie einnehmen sollte, wird von der Arbeit verdrängt, die im Wettkampf gegen die Arbeitslosigkeit, im Wettkampf um Geld und Karriere steht.
Und in Indien? – Dort ist bloßes Arbeit-Haben ein unschätzbar hoher Wert. Denn Arbeit-Haben bedeutet, einen Verdienst zum Lebensunterhalt zu besitzen. Die Sorge, keine Arbeit zu bekommen, oder die Arbeit zu verlieren, beunruhigt die armen Menschen, aber ebenso die Menschen der Mittelklasse. Denn die Mittelschicht kennt zu viele Menschen aus ihren eigenen Reihen, die plötzlich in Armut abgestürzt sind. Die Schreckensvision ist nicht die totale Arbeitswelt, sondern der Hunger und der Verlust von gesellschaftlichem Prestige.
Das bedeutet, dass Arbeit einen so hohen Wert besitzt, dass Nicht-Arbeiten gleich welcher Art kaum einen Wert gewinnen kann. Der Handarbeiter, der keine Arbeit hat, langweilt sich, er fühlt sich leer. Er wartet nur darauf, wieder Arbeit zu bekommen. Er ist unfähig zur Muße. Muße als „Feierabend“, als in den Alltag eingefügtes, säkulares, kulturschaffendes Element ist nicht vorhanden.
Insbesondere im religiösen Bereich lässt sich in Indien ein Ort für Muße entdecken. Wir haben ihn schon im Zusammenhang mit dem religiösen Spieltrieb beschrieben. Setzen wir dem ein Kapitel hinzu, nämlich über die indische Denkweise. Pieper unterscheidet zwischen ratio und intellectus, also zwischen dem diskursiven, ergebnisorientierten Denken und dem schauenden, intuitiven Denken. Dieselbe Unterscheidung kennen wir in der indischen Philosophie: als manas wird das Organ des einfachen Denkvorgangs bezeichnet und als buddhi das Organ, in dem Intuition, das tiefere, geistige Verständnis vor sich geht.
Indische Philosophie vertraut viel stärker der Intuition, als dem diskursiven Denken. Grob gesprochen, uns haben in Europa Rationalismus und Aufklärung gelehrt, „vernünftig“ zu sein und die Dinge „durchzudenken“ und zu „hinterfragen“. Indien sucht bei Problemstellungen nicht so sehr nach den passenden Denkschritten, sondern nach den richtigen Vor-Bildern und vorbildhaften Geschichten. Intuitiv finden sie solche Geschichten in der Mythologie.
Nehmen wir das Beispiel von Rabindranath Tagore, dem indischen Nationaldichter. Seine Essays vermeiden das diskursive Schritt-für-Schritt-Denken und leben aus der Evokation von Gefühlen. Es sind knappe Sentenzen, wie Aphorismen, kurz umrissene Metaphern oder Geschichten. Solche Essays wirken wie lange Prosagedichte. Dieses Fehlen einer gegliederten Gedankenfolge stiftet jedoch nicht Verwirrung, nein: die Essays umreißen einen lebendigen assoziativen Zusammenhang, der am ehesten intuitiv erfasst wird.
Die indische Denkweise möchte die Menschen und das Menschliche deifizieren, also in die Sphäre der Götter und des Göttlichen heben. Zuneigung und Liebe steigert sich in Indien rasch und unkompliziert zur Verehrung. Der eigene Guru wird zum „göttlichen Guru“, der Vater und die Mutter, der Lehrer, die politischen Anführer und sozialen Reformer werden von der Allgemeinheit in die Sphäre des Göttlichen gehoben. Nehmen wir als Beispiel die Bollywood-Filmstars. Es ist kaum zu glauben, aber es stimmt: In Indien werden ihnen Tempel gebaut und darin verehrt man rituell ihre Fotos. So durchlässig ist das Menschliche hin zum Göttlichen!
Wer so empfindet, kann auch leicht und reichlich Anteil nehmen an der geistigen „Schaukraft der Engel“[ix], die Pieper beschwört, um die transzendente, die „übermenschliche“ Dimension der Muße zu beschreiben. Diese Dimension ist, wie wir sehen, dem indischen Empfinden geradezu angeboren, und insofern sind indische Menschen – mehr gewiss als Abendländer – begabt für die Muße.
Wenn Josef Pieper mit Thomas von Aquin dafür eintritt, dass es im Abendland „zur Vollkommenheit der menschlichen Gemeinschaft“ auch „Menschen gibt, die sich dem […] Leben der Beschauung hingeben“[x], also der vita contemplativa, dann läuft er mit dieser Forderung in Indien offene Türen ein. Solche sich der Beschauung hingebende Menschen gibt es heute noch genügend. Und nicht nur das, sie stellen einen der Urtypen des religiösen Menschen dar. Sie heißen sannyāsī oder sādhu. Das sind Bettelmönche, die ständig unterwegs sind, oder die in Ashrams, in kleinen, losen Gemeinschaften, wohnen. Ihre gesellschaftliche Aufgabe besteht darin, außerhalb der Gesellschaft zu leben.
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Ein Gedanke, der sich bei Josef Pieper nicht findet, der ihm aber wesensverwandt ist, heißt: Muße gewinnen jene, die sich bescheiden können: Die sich abfinden mit der Unvollkommenheit der Welt und der Unvollkommenheit ihrer eigenen Lebensleistung. Das ist ein Überwinden des frühen Idealismus, des Schaffenswillens, der irrigen Selbsteinschätzungen und des Geltungsdrangs. Sie alle welken, werden schwächer, und viel davon fällt ab. Nicht dass sie Irrtümer einer unreifen Lebenszeit gewesen wären. Sie waren notwendig, damit sie jetzt abfallen können. Sie waren notwendig, damit jetzt die Selbstbescheidung möglich ist. Denn Menschen, die aufgeben, ohne das Bestmögliche angestrebt zu haben, werden bitter, zynisch, sie verzweifeln über sich selbst. Menschen, die nach einem bemühten Leben wissen, dass das Höchste unmöglich war – für sie und allgemein – die mögen in ein Bedauern, in eine Melancholie gleiten, doch haben sie die Reife gewonnen, diese Niederlagen innerlich zu bewältigen. Denn die Selbstbescheidung baut stets auf einem robusten Realismus auf, der uns sagt, dass es Vergeudung von Zeit und Energie ist zu bedauern, was nicht möglich war. Überhaupt meine ich, dass die Melancholie die zarte Schwester der Muße ist.
Solche Selbstbescheidung hat auch insofern Sinn, als sie einhergeht mit der Erkenntnis: Was ich nicht tun konnte, haben andere erreicht. Die Werke einzelner Menschen sind für die ganze Menschheit geschaffen und entstammen den Talenten und der Energie der ganzen Menschheit. Ich soll mich dankbar an ihnen erfreuen, weil sie von Menschen wie mich und für Menschen wie mich geschaffen wurden. Das Vertrauen darauf, dass die eigene Tätigkeit zwar wichtig ist, dass es jedoch noch tausend andere Tätigkeiten gibt, die ebenso wichtig oder wichtiger sind, kann die Gemeinschaft der schöpferischen Menschen in den Blick bekommen. Überall webt und weht der schaffende Geist, er verbindet und vereint eine Vielzahl von Menschen. Inmitten dieser Vielzahl habe auch ich einen mir eigenen Ort.
Aus diesem Abstand zu den Dingen, sogar zum eigenen Werk, zum eigenen Leben ist Muße echt und fruchtbar. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass Muße offenbar eine Angelegenheit des gereiften Alters ist und für junge Menschen weder möglich noch erstrebenswert ist. Ganz so ist es nicht.
Es gibt auch eine Muße der Jugend. Sie entfaltet sich aus dem Bewusstsein, dass man viel Zeit hat, viel Lebenszeit. Man spürt sie als einen unendlichen Besitz, weil man mit dem Gefühl noch nicht das Ende der Lebenszeit berührt. Dieses Bewusstsein des unermesslichen Zeithabens lässt nicht das Gefühl aufkommen, dass Zeit „vergeht“, also auch nicht, dass man Zeit entweder „vergeudet“ oder „nutzt“. Es lässt nicht das Gefühl für die Unwiederbringlichkeit jeden Augenblicks entstehen. Aus dieser Leichtigkeit sprudelt die Muße der Jugend.
Später entsteht und wächst der gesellschaftliche Druck. Das Bedürfnis, sich mit dem anderen Geschlecht zu verbinden, erzeugt Pflichten und Notwendigkeiten. Der Ehrgeiz, im Beruf zu reüssieren, fügt junge Menschen in Systeme ein. Idealismus, Schaffenswillen, Prestige, Familie straffen das psychologische Netz, in dem sich die Menschen gefangen sehen. Solange diese Erfahrungen im Vordergrund des Erlebens stehen, ist es unrealistisch, Muße pflegen zu wollen, es sei denn, man ist für die „höhere Anstrengung“ Heideggers bereit. Erst wenn sich, wie gesagt, Lebenskapital angesammelt hat und das Lebenswerk absehbar oder vollbracht ist, wird Selbstbescheidung möglich und Muße leichter zu verwirklichen. Die Muße des reiferen Lebens hat sich ohne Bitterkeit von so manchem Druck befreien können. Ihr Tenor ist Dankbarkeit gegenüber dem Leben.
[i] Patañjali, Die Wurzeln des Yoga. Die klassischen Lehrsprüche des Patañjali mit einem Kommentar von P. Y. Deshpande; mit einer neuen Übertragung der Sūtren aus dem Sanskrit herausgegeben von Bettina Bäumer. Scherz Verlag, Bern 11. Aufl. 2005, S. 21.
[ii] Josef Pieper, Muße und Kult. Hegner-Bücherei im Kösel-Verlag, München 1948, S. 13 f.
[iii] Siehe Albert Camus, Der Mythos von Sisyphus. Ein Versuch über das Absurde. Verlag Rowohlt, [Reinbek o.J.], S. 9 (rowohlts deutsche enzyklopädie 90)
[iv] Muße und Kult. S. 30.
[v] siehe a.a.O., S. 33 ff.
[vi] a.a.O., S. 14.
[vii] George Steiner, Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006.
[viii] Martin Heidegger, Gelassenheit. Verlag Günther Neske, Pfullingen 1959, S.13.
[ix] Muße und Kult. S. 27
[x] a.a.O., S. 45.
Martin Kämpchen
geb. 1948 in Boppard am Mittelrhein, studierte Deutsche Literatur, Theaterwissenschaften und Französisch in Wien und Paris, Vergleichende Religionswissenschaften in Madras und Santiniketan; zweimal Dr. phil. Wohnt seit 1973 in Indien, übersetzt die Lyrik von Rabindranath Tagore und die Gespräche von Ramakrishna aus dem Bengalischen, schreibt Bücher zum interreligiösen und interkulturellen Dialog, veröffentlicht erzählende Prosa sowie Beiträge für das Feuilleton der FAZ über Indien.
Seine letzten Bücher sind Einfach tun. 44 Schritte zur Lebenskunst“ (Rowohlt, Reinbek 2009), Leben ohne Armut (Herder, Freiburg 2011), Rabindranath Tagore und Deutschland (Deutsches Literaturarchiv, Marbach 2011), sowie die Übersetzung aus dem Bengalischen von Rabindranath Tagore, Gedichte und Lieder (Insel, Berlin 2011).