Stimmen der Zeit 12/2014 Martin Kämpchen Glück und Wahrhaftigkeit

Stimmen der Zeit 12/2014

Martin Kämpchen

Glück und Wahrhaftigkeit

Welche Anregungen kann der Diskurs aus Indien empfangen?
„Gandhi bemühte sich um die einzige Art des Glücks, die ich
ehrlich bewundere, nämlich eine, die Walter Benjamin als die
Fähigkeit der Innenschau, ohne vor sich selbst zu erschrecken,
bezeichnet hat.“1
Alle sprechen vom Glück. Je dringlicher unsere Gesellschaft in Europa Lebenserfüllung
im Glück sucht, desto mehr scheint es ihr zu entgleiten. Kann ein Diskurs,
der indische philosophische Vorstellungen aufgreift, zu neuen, frischen Einsichten
führen?
Ich vernachlässige hier bewusst jene Strömungen der indischen Geistigkeit, die
auf einer Negation der Wirklichkeit, auf der Idee der Unwirklichkeit der Welt, aufbauen.
Sie finden „Glück“ in der weltverneinenden Askese. Vielmehr begebe ich
mich auf Glückssuche im weltbejahenden Sinn: In drei Kreisen beschreibe ich die
Erfahrung des Glücks. Der kleinste Kreis ist das Glück durch Konzentration, der
nächst größere die Einstimmung in die Dynamik des Glücks durch eine Ausweitung
des Bewusstseinskreises zur Natur und zum Kosmos hin. Der größte Kreis
entsteht durch die Einbeziehung des Begriffs der Wahrhaftigkeit. Pierre Teilhard de
Chardin SJ († 1955) zeigt, dass eine solche Öffnung zum Kosmos auch im christlichen
Rahmen möglich und wünschenswert ist.
Glück aus der Konzentration
Wer die Fähigkeit zur Sammlung seiner inneren Kräfte besitzt, zur Konzentration,
dem ist die Möglichkeit gegeben, Glück zu erfahren. Das ist die erste, vorläufige,
aber eine entscheidende Antwort auf die Frage, was Glück sei. Sie bezieht sich nicht
eigentlich auf den Inhalt des Glücks, darauf, was Glück „ausmacht“, sondern sie
benennt eine Voraussetzung. In der Konzentration zieht sich die Wirklichkeit zu
einem Augenblick zusammen: im Glücksmoment der Meditation, einer plötzlichen
Begegnung oder eines Einfalls, des Orgasmus, im Moment, in dem wir das Gefühl
haben, geliebt zu sein, im Moment einer Glücksnachricht oder eines starken Naturerlebnisses,
im momentanen Adrenalinrausch der Sportler auf der Zielgeraden und
dem akuten Glücksschmerz der Mütter beim Gebären.
Die Wirklichkeit zieht sich zusammen zu einem Erlebnispunkt: Gegenwart und
Erinnerung, Bewusstsein und Unterbewusstsein, Wirklichkeit und Hoffnung bestehen
als eines. Die Fähigkeit, sich auf diese Erlebnisse vollkommen einzulassen,
sich durch willentliche Konzentration diesen Erlebnissen hinzugeben, ein rückhaltloses
Ja zu ihnen zu sagen, das macht das Glück aus. In der Wirkung überwältigt
„Glück“ den gesamten Menschen so vollkommen, dass man sich in diesem Moment
des Inhalts kaum noch bewusst wird. Glück „ist“ Konzentration; Konzentration
„ist“ Glück.
Diesem Moment des Konzentrations-Glücks folgen weitere Momente, in denen
das Glück verebbt. Dem schmerzlichen Wunsch, den Moment zu wiederholen, den
Glücksmoment gar durch eine kontrollierte Reproduktion zum Instrument des Willens
zu machen, widersteht das Glück. Glücksmomente sind nicht von Dauer. Auch
eine erhöhte Fähigkeit zur Konzentration kann sie nicht erschaffen. Die Fähigkeit
zur Konzentration ist zwar eine Voraussetzung, doch nicht jede gelungene Konzentration
beschwört Glücksmomente herauf. Einübung in die Konzentration, wie etwa
im körperlichen und mentalen Yoga üblich, hat also nicht unweigerlich eine Glückserfahrung
zur Folge. In der Theorie hält zwar der Yoga einen solchen Automatismus
für möglich und strebt an, ihn zu perfektionieren. Die Erfahrung besteht aber darauf,
dass auch die Yogis Glücksmomente nicht nach Belieben durch Konzentration wiederholen
können. Sie sind sich dessen bewusst, darum setzen sie künstliche und von
außen gesuchte Stimulanzien ein, um solche Glücksmomente zu erzwingen: Das
sind zum Beispiel Rauschmittel, Sex (im Tantrismus) oder Fasten.
Ebenso beliebt sind emotionalisierende Mittel wie Litaneien. Man wiederholt im
Singsang und mit unterstützenden Körperbewegungen die immer gleichen Silben
und steigert sich in ein Rauschglück hinein, etwa bei den beliebten Kirtans im Hinduismus.
Eine Gruppe von Menschen bewegt sich rhythmisch wiegend und händeklatschend
in einer Prozession fort. Oder denken wir an den Wirbeltanz der sufischen
Derwische, die sich im Kreis drehend in einen Trancezustand tanzen. Diese
externen Hilfsmittel weisen darauf hin, dass bloße Konzentration nicht genügt.
Doch anstatt uns auf die beschriebenen äußerlichen Hilfsmittel zu verlassen, die uns
ins Glück aufputschen wollen, ist es nicht angemessener, solche Hilfsmittel zu suchen,
die dem Inhalt des Glücks nicht fern stehen, sondern ihm wesensverwandt
sind? Hilfsmittel eben, die eine inhaltliche Vorbereitung zum Glück sind, die ihr
Wesen treffen? Als solche Hilfsmittel sehe ich eine vorbereitende innere Einstellung
an sowie die Wahl einer äußeren Umgebung, die Erwartung und Sehnsucht nach
dem Glück spiegelt, also die emotional-mentale Hinwendung auf das Kommende,
dessen Inhalt wir ahnen.
Eine solche Vorbereitung ist immer mit eigener Entleerung, mit Geduld und
Warten, mit der Beruhigung der eigenen nervösen Motorik und der Ich-Triebe, mit
der Beruhigung der Gedanken und der Gefühle verbunden. Ist es richtig zu sagen:
Wir müssen uns wartend auf Augenblicke der Gnade vorbereiten, um uns dem
Glück zu nähern? Diese Gnade kann als Blitz und ohne eine vorbereitende und
erahnende Konzentration auf das kommende Ereignis ins Leben einbrechen. Durch
einen solchen Gnadenblitz wurde Saulus zum Paulus bekehrt. Das sind die Gnadenblitze,
die so selten in uns einwirken. Üblicher ist es, dass wir uns auf das Wirken
der Gnade innerlich vorbereiten müssen. Gnade lässt sich nicht provozieren,
nicht wie eine Trophäe wegreißen. Die beste Vorbereitung für den Eintritt der
Gnade in unser Leben ist das bewusste und geduldige Abwarten. Dieses Abwarten
hat schon die Qualität der Sammlung, der Verengung des Fokus auf ein Ziel, nämlich
des Glücks.
Gibt es ein dauerhaftes Glück?
Betreten wir den zweiten Kreis unserer Betrachtungen. Um das Glück beständiger,
nachhaltiger in uns zu verankern, sollen wir nicht die blitzartigen Glücksmomente
ersehnen, sondern das Glück auf einer „niedrigeren“, aber dauerhafteren
Ebene suchen. Wie könnte eine solche Ebene beschaffen sein? Ich beschreibe eine
mögliche Antwort, die uns die Lebenserfahrung der Hindu-Philosophie gewiesen
hat. Der Sanskrit-Begriff Rita (rta) umschreibt diese Antwort. Laut Raimundo
Panikkar bedeutet Rita die „kosmische und sakrale Ordnung; das Opfer als universales
Gesetz oder auch universale Wahrheit; und die endgültige dynamische
und harmonische Struktur der Wirklichkeit“2.
Diese diversen Elemente sind scheinbar inhomogen. Der Begriff Rita umschreibt
aber ein Erlebnis, das organisch und einheitlich ist. Rita gibt dem gesamten Kosmos,
der gesamten Wirklichkeit eine Ordnung. Diese Ordnung ist nicht statisch,
sondern sie wirkt in den Kategorien der Zeit und des Ortes dynamisch immer weiter
ordnend und harmonisierend. Rita ist nicht nur überzeitliches Gesetz, sondern
Bewegung, die immerzu die Ordnung und Harmonie in der Welt, innerhalb von
Zeit und Ort, neu herstellt und bewahrt. Es ist aber keine Ordnung, die sich in den
sinnenhaft erfahrbaren Phänomenen zu erkennen gibt, sondern sie ist übernatürlich
verankert, übersinnlich. Sie ist in jenem Bereich angesiedelt, in den unser menschliches
Spüren noch hinreicht, in jenem Bereich, der zwischen der phänomenalen,
sinnenhaft erfahrbaren Welt und der Transzendenz liegt, in der die Phänomene aufgelöst
sind. Dieser Zwischenbereich wird gespeist einerseits von der Transzendenz,
anderseits von den Phänomenen. Die Ordnung entsteht kraft der Transzendenz,
kraft ihrer Wirkmacht innerhalb der phänomenalen Wirklichkeit.
Rita wird „Opfer“ genannt, weil sie der phänomenalen Welt „dient“, ihr Ordnung
und Struktur verleiht, damit sie in sich harmonisch bleibt und nicht in innerer
Dissonanz und Zerstrittenheit auseinanderbricht. Raimundo Panikkar nennt Rita
eine „Wahrheit“, weil sie nicht nur aus Sehnsucht imaginiert ist, kein Fantasiegebilde
ist, sondern weil sie tatsächlich besteht und in den täglichen Lebensvollzug
integriert werden kann. Christlich kann man von der „Stimme des Gewissens“ oder
dem „Wirken des heiligen Geistes“ sprechen. Mahatma Gandhi nannte es „the still
small voice“, die sich bemerkbar macht, wenn Sinne und die Gefühle beruhigt sind,
etwa in der Muße, im Gebet oder in der Meditation.
Rita wird als eine Dynamik, die im Kosmos wirksam ist, erfahren, als eine Dynamik,
in die man, bei entsprechender Vorbereitung, einschwingen, sich hineinversetzen,
in die man sich „hineinverwandeln“ kann, um an ihr teilzunehmen und
in ihr mitzuschwingen. An ihr und in ihr wächst der Mensch über die eigene Individualität
hinaus und findet Heimat im Kosmos, in dieser größtmöglichen Weite
der Schöpfung. Vergleichbar ist dieses Bewusstsein mit Sigmund Freuds „ozeanischem
Gefühl“3. Freud bezieht dieses religiöse Urgefühl auf das frühkindliche
Erleben der Einheit, das nicht unterscheidet zwischen dem eigenen Ich und der
Mutter und ihrer Umgebung. Das Kind erfährt, so Freud, die „innige Verbundenheit
des Ichs mit allem“.
In die kosmische Dynamik hineingenommen zu sein, verlangt also eine Ich-
Bindung mit der Außenwelt, mit dem Kosmos. Das bedeutet eine Auflösung oder
zumindest Aufweichung des Ich, damit es sich in diese übergeordnete Wirklichkeit
einbeziehen lässt. Dieses Mitschwingen, Mit-Hinein-Genommensein in den
Puls des Kosmos erweckt ein Glücksbewusstsein, das vielleicht milde, oft als Unterströmung,
weniger als Antreiber, wahrgenommen wird, das uns aber dennoch
trägt, gerade in Krisen.
Wir sehen: Im ersten Kreis erörterten wir die Konzentration als Glücksbringer,
also die Verengung des Wahrnehmungsfokus auf den kleinsten Punkt. In der
zweiten Runde geschieht das Gegenteil: Wir suchen ein mehr bleibendes, ruhigeres
Glück in der größtmöglichen Weite, im ozeanischen Gefühl, in dem Öffnen
hin zu einer kosmischen Dimension. Raimundo Panikkar hat Rita als „universale
Wahrheit“ charakterisiert. Auch Wahrheit ist nämlich – nach indischer Vorstellung
– eine dynamische Kraft (bezeichnet also keine statistische „Richtigkeit“
oder bloß moralische Lauterkeit). So lässt sich dieses „In-der-Rita-Mitschwingen“
auch als ein „In-der-Wahrheit-Sein“ wiedergeben. Das bedeutet: Die Bedingung
für dieses Mitschwingen im Kosmos-Puls ist eine tätige innere Lauterkeit
und Echtheit. Sie müssen eingeübt werden, um zu entstehen und erhalten zu bleiben.
Das Empfinden für die kosmischen Rhythmen, die Rita, ist nur möglich,
wenn Gefühle und Gedanken genügend geläutert sind, um die Schwingungen aufzunehmen
und sich mit ihnen zu verbinden.
Die Erfahrung des In-der-Wahrheit-Seins sollen wir im sinnenhaft erlebten Alltag
machen; das In-der-Wahrheit-Sein soll diesen Alltag begleiten und beraten
und immer stärker durchdringen, sodass letztlich unser gesamter Tag von diesem
Bewusstsein des In-der-Wahrheit-Seins bestimmt wird und unsere Sorge nur die
eine bleibt: aus dieser Dynamik nicht herauszufallen durch eigene Unaufmerksamkeit
und moralisches Versagen.
Erhalten bleibt dieses In-der-Wahrheit-Sein durch regelmäßige Übung: in der
Meditation, im Herzensgebet, begleitet vom ruhigen Atmen, im körperlichen
Yoga; in der Übung der Stille und Muße, dem Besuch stiller, menschenleerer, sakraler
Orte, dem regelmäßigen Beiwohnen heiliger Handlungen. Solche Übungen
betonen und stärken eine gleichmäßige, ruhige Gestimmtheit. Diese grenzt sich ab
vom Rausch oder der Ekstase sowie vom hektischen Wunsch nach neuen und
unterschiedlichen (religiösen) Erlebnissen. Das In-der-Wahrheit-Sein soll im Alltag
das gleichmäßig Tragende sein, die Dynamik, die den Alltag durchwirkt und
zum höchstmöglichen dauerhaften Glück im Alltagsleben führt. Diese innere
Wachheit, die uns die regelmäßige Übung gibt, sowie der reine Wille, sich nicht
von dem eigenen Alltag, wie er auch sei, vereinnahmen zu lassen, kann zu der Sicherheit
führen, in der Dynamik der Rita weiterzuschwingen.
Jetzt wird auch verständlich, warum ich im Titel „Glück“ mit „Wahrhaftigkeit“
verbinden muss. Das möglichst dauerhafte Glück, so wie ich es hier definiere, ist
nur in der Dynamik der Wahrheit möglich. Es kann nicht im Rausch, nicht in der
Ich-Bezogenheit, also nicht in der egoistischen Ausgrenzung anderer Menschen
und menschlichen Erlebnissphären, nicht in der Sucht nach starken Gefühlen
wachsen. Dieses Glück muss sich in dem ansiedeln, was dauerhaft sein kann, was
infolge dieser Dauerhaftigkeit echt und authentisch, eben wahrhaftig, ist. Negative,
destruktive, ichsüchtige Tendenzen haben nicht diese Qualität der Wahrhaftigkeit,
die den Kosmos als göttliche Schöpfung anerkennt und zu erfahren sucht
und darum sich weitestmöglich dieser Schöpfung und ihrer Dynamik öffnet und
anvertraut.
Gibt es Entsprechungen der Rita im Europäischen und Christlichen? Wir nannten
die Stimme des Gewissens. Kürzlich entdeckte ich ein Gedicht, das auch im
poetischen Bild die Hindu-Vorstellung des kosmischen Mitschwingens berührt.
Es handelt sich um das Gedicht von Albrecht Goes über den Engel, der eine Laute
spielt und zu den Menschen so spricht:
„Sprich mich nicht an! Ich kann dir nichts erwidern.
Ich höre nur der Laute Lobgesang.
Ich hab ein Amt, begreif: den heilgen Liedern
Zu dienen, Klang bei Klang.
Doch fürchte nichts! Denn über allen Worten
Und allem, was geschieht und je geschah,
Klingt dieser Ton und tönt an allen Orten.
Wags und stimm ein, und du bist ganz mir nah.“4
Das Gedicht will Ähnliches aussagen: Im Kosmos herrscht ein heiliger Klang, der
Gott, das Göttliche verehrt und beschwört, der vermittelt zwischen den Menschen
und dem Göttlichen und darum tröstlich ist: „Fürchte nichts!“ Das Gedicht lädt
ein, einzuschwingen in diesen Ton.

Glück-Haben, Glücklichsein und Glückseligkeit
Fangen wir beim dritten Kreis noch einmal von vorn an und suchen nach Antworten
auf die Frage: Was ist Glück? Die oben charakterisierte Methode, die aus der
indischen Philosophie abgeleitet ist, gibt uns zwar die Möglichkeit, Glück als ein
metaphysisches Gut in uns wie ein wärmendes Feuer zu schüren, aber wir wissen
noch nicht, was Glück denn sei, was der Inhalt dessen ist, was uns wärmt. Mit dem
Begriff der Wahrhaftigkeit ist schon ein Inhalt angedeutet; aber wahrhaftig zu sein
heißt noch nicht, glücklich zu sein, sondern wiederum nur, eine Voraussetzung zum
Glück zu erfüllen.
Die englische Sprache kennt klare Unterscheidungen. „Glück“ kann dreierlei
bedeuten: erstens luck; zweitens happiness; und drittens bliss. Der erste Begriff
bedeutet „Glück haben“, wie man nach dem guten Ausgang eines Ereignisses
sagt: „Da hast du Glück (im Sinne von good luck) gehabt!“ Es bewertet ein einzelnes
Ereignis, das entsprechend den Erwartungen gut gelungen ist und abgeschlossen
werden konnte. Der zweite Begriff, happiness, meint das Glück im
Sinne von „glücklich sein“; er bezeichnet einen unbestimmt lange anhaltenden
Zustand. Man mag in der Ehe glücklich sein oder im Beruf oder mit seinen Kindern.
Glücklich ist man also situationsbezogen. Das heißt aber auch: Sobald sich
die Situation ändert, fehlt die Grundlage zum Glück. Der dritte Begriff, bliss, lässt
sich mit „Glückseligkeit“ übersetzen und hat religiöse Beziehungsfelder. Glückseligkeit
nimmt ihre Legitimation aus der Beziehung zur Transzendenz, zum
Göttlichen.
Auch in den indischen Sprachen besteht diese Abstufung: sukha und ānanda.
Während „Sukha“ das kreatürliche Glück und Wohlbefinden bezeichnet, das
Glücklich-Sein nach einem gelungenen Unternehmen oder einer guten Erfahrung,
ist „Ananda“ eher die Glückseligkeit, die der religiösen Erfahrung entspringt. Die
Vedanta-Philosophie postuliert, dass die drei wesentlichen Eigenschaften des
Göttlichen (brahman) Sat-Chit-nanda ist, nämlich Wahrheit-Bewusstsein-Glückseligkeit.
Vom Standpunkt der Wahrhaftigkeit aus betrachtet, kann Glück nur die „Glückseligkeit“
meinen. Sie gibt mehr Antworten auf existenzielle Fragen, die uns beunruhigen
und uns so oft ins Unglücklich-Sein treiben, als das momentane Glück-
Haben, selbst als die glückhaften Ekstase-Momente, die wir anfangs beschrieben
haben. Dieses Glück-Haben soll jedoch nicht abgewertet werden, denn ihre Kraft
kann unser berufliches und persönliches Leben verwandeln, es motiviert uns, es
wirkt als Erinnerung, als psychisches Substratum. Ein Mann, der häufig in menschlichen
Beziehungen, der in der Ehe, im Beruf Erfolg hatte, wird von diesem Glück
zehren, auch wenn eine Zeitlang Glücksleere herrscht. Dessen Persönlichkeit baut
sich mit Hilfe des häufigen Glückserlebens auf und kann oft Glücksdürren ohne
Selbstzweifel und Verzweiflung überstehen.
Wir kennen solche Menschen, die zum Charisma des glückhaften Lebens wie
geboren zu sein scheinen. Zehn Zeilen aus einem Gedicht von Hugo von Hofmannsthal
veranschaulichen das Talent zum Glück und die Verdammung durch
Unglück:
„Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.“5
Aber eine sonnenhafte Mentalität beweist noch nicht, dass diese Menschen Antworten
auf jene Fragen besitzen, in sich gesichert besitzen, die uns umtreiben. Welche
Fragen meinen wir?
Albert Camus hat seinen Essay „Der Mythos von Sisyphos“ (1942) mit diesen
zwei kompromisslosen Sätzen begonnen:
„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung,
ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.“
6
Meine Antwort lautet: weil der Selbstmord gegen unsere Kreatürlichkeit verstößt,
die will, dass wir weiterleben – und sei es ohne die Entdeckung eines Lebenssinns
und eines Glaubens, der das Leben in ein Ganzes einbettet. Die ganze Kraft
unserer Seele strebt nach dem Weiterleben und ängstigt sich vor der Trennung vom
Leib. Dieses kreatürliche Weiterleben-Wollen umgreift die Sehnsucht, glücklich
weiterzuleben. Sie ist nicht nur kreatürlich, sondern sie dringt in die seelischen Tiefenschichten
ein. Wir streben zum Weiterleben in körperlicher Gesundheit und seelischem
Wohlbefinden.
Camus’ Frage muss allerdings komplexer beantwortet und ins Positive gewendet
werden: Welche Inhalte brauchen wir als bewusst lebende Menschen, um zusammen
mit dem kreatürlichen und seelischen Glück auch emotional, mental und intellektuell
zu einer Glückserfüllung zu finden? Die Sehnsucht weiterzuleben, stößt an
die Grunderfahrung, dass wir Menschen sterben werden. Wie aber können die
Menschen Glück erwarten, wenn sie wissen, dass sie sterben müssen? Wie können
sie angesichts der Endlichkeit aller Wesen, also auch ihrer eigenen Endlichkeit als
Menschen auf dieser Welt, angesichts der überwältigenden Macht der Zeit und deren
Sog zur Veränderung Glück erhoffen?
Sollen wir uns mit den rauschhaften Glücksmomenten und dem eher zufälligen
„Glück-Haben“ begnügen? Beides ist letztlich unsicher, unbeständig, darum unbefriedigend
– und kein Glück. Denn es verlangt, wie gesagt, per se nach der
Dauer. Sollen wir uns mit der bloßen kreatürlichen Befriedigung, bis auf absehbare
Zeit weiterzuleben, begnügen? Dies bedeutete, dass wir uns abfinden mit
unserer Endlichkeit und so lange weiterleben, bis das Leben aufhört. Dieses Sich-
Abfinden, das die Philosophie der Stoa vorschlägt, die ohne Ringen um eine metaphysische
Vision auskommt, die die Endlichkeit herausfordert, ist kein Glück.
Dieses Sich-Abfinden drückt sich heutzutage in der Schnelllebigkeit aus, in der
Zerstreuung durch das Vielerlei des Lebensbetriebs. Es ist ein Leben der Betäubung.
Wahrhaftiges Glück ist ohne die Reflexion, ohne ein Innehalten und Auf-sichselbst-
Blicken, ohne ein In-sich-Ruhen nicht denkbar, denn Glück soll souverän
und fest gegründet sein. Dem von seiner Endlichkeit geschüttelten Menschen sind
aber gerade dieses Innehalten und der Wunsch, in sich zu ruhen, ein Feind, weil ihn
dies alles erneut und mit Wucht auf seine Endlichkeit zurückwirft. Was ist also ein
wahrhaftiges Glück?
Wahrhaftigkeit führt zum Glück aus der Transzendenz
Wahrhaftigkeit und Glück können sich nur verbinden, wenn wir unser Leben in die
Transzendenz stellen. Das ist nicht leicht, das braucht Vorbereitung durch Zweifel
und Verzweiflung, Suche und Enttäuschung, durch Sehnsucht und Ringen um das,
was Wahrheit ist. Dieses wahrhaftige, helle Glück, das entsteht, wenn wir den Anfechtungen
standgehalten haben, uns nichts vorgemacht haben, wir also gefestigt
sind, ist nur „am Ende“ nach einem längeren Prozess denkbar. Wenn man getan hat,
was notwendig war, und nichts darüber hinaus zu tun möglich ist – wenn man den
guten Kampf gekämpft hat. Kann man das aber jemals von sich sagen? Wer verneint,
wie vielleicht die meisten, dem ist Glück insofern eine Utopie, die immer weiter
rückt, die immer vor uns her schwebt als Möglichkeit, sichtbar, aber unfassbar.
Glück ist vermutlich am wahrsten und fasslichsten in der Sehnsucht nach Glück.
Ebenso ist der Vorgang, das Leben in die Transzendenz zu stellen, nie vollendet,
niemals abschließbar. Das höchste verwirklichbare Glück erscheint mir darum die
Sehnsucht nach Transzendenz.
Als sehnsüchtige Menschen erleben wir häufig die Stimmungen der Melancholie;
es ist die Trauer über das unerreichbare Glück, das heißt, die Trauer über die eigene
Unvollkommenheit, das Leben in die Transzendenz zu stellen. Doch diese Melancholie
hat wunderbarerweise selbst die emotionale Farbe der Transzendenz, leitet
zu ihr hinüber und versöhnt uns mit dem Unerreichbaren. Diese existenziell religiöse
Gespanntheit, wie sie durch das unerreichbare Glück, das dennoch Glück ist,
entsteht, kann aufgelöst werden nur durch eines: den Glauben. Den Glauben an die
Transzendenz, nämlich an einen erlösenden Gott. Glaube ist der Sprung aus der
Sphäre menschlicher Erfahrung in eine Sphäre, die Erfahrung als wenig wichtig
ansieht.
Doch letztlich will der Glaube nicht ohne die Erfahrung auskommen: die Erfahrung
von Riten, Symbolen, Gesten, Menschen mit Charismen, von heiligen
Zeiten und Orten, die Erfahrung von Rita. Sie alle weisen auf die Transzendenz
hin und geben von ihr einen Vorgeschmack. Der Glaube sucht die Erfahrung, er
will sich durch sie seiner selbst versichern. Die existenzielle Gespanntheit also
bleibt. In der Hindu-Philosophie nimmt die religiöse Erfahrung einen wichtigeren
Platz ein als im Christentum. Die Bedeutung der religiösen Erfahrung geht
manchmal sogar bis zu der kühnen Forderung: Glaube an nichts, was du nicht
erfahren hast!
Das Ziel der Hindu-Gläubigen ist jīvan-mukti, das viele Hindu-Theologien, jedoch
nicht alle, postulieren: das Erlöstsein des Menschen, während er noch im Körper
lebt. Im Judentum, Christentum und Islam theologisch undenkbar, kann sich
der Hinduismus einen schon auf der Erde erlösten Menschen vorstellen. Im Christentum
gibt es nur diesen einen – den nach dem Osterereignis erlösten Christus –,
der als Mensch in Seele und Leib erlöst ist. Hindus weisen auf ihre Heiligen und
Gurus hin. Jeder von ihnen gilt als ein jīvan-mukta (im Leben Erlöster): Chaitanya,
Rāmakrishna, Rāmana Mahārshi, Aurobindo. Ob sie sich selbst als solche bezeichnet
haben, bleibt allerdings unklar.
Der Jīvan-mukta ist also der Mensch des vollendeten Glücks, der Glückseligkeit,
bliss. In ihm ist die Spannung zwischen Leben auf der Erde und Leben in der
Transzendenz, zwischen Sehnsucht und Erfüllung aufgehoben. Er lebt in der
Transzendenz, obwohl er noch am irdischen Leben teilnimmt. Es gehört zu den
Verlockungen und Herausforderungen des Hinduismus, dass er eine solche Möglichkeit
des vollendeten Glücks anbietet. Solange das Jīvan-mukti-Ideal nicht zu
Arroganz, sondern zu tiefer Demut führt, ob seiner Größe und ob der Entfernung,
in der wir alle zu diesem Ideal stehen, vermag es unsere Glückssehnsucht zu
stimulieren.

Teilhard de Chardins Zeugnis
Die Sehnsucht nach Transzendenz nannten wir das höchste erreichbare Glück.
Pierre Teilhard de Chardin SJ ist als christlicher Theologe ähnliche Schritte gegangen.
Er sah im „Glück des Wachsens“ oder „Glück der Entwicklung“7 das eine
wahrhaftige Glück. Der glückliche Mensch ist jener, der zum Glück findet, indem
er „voranschreitend zur Fülle und ans Ende seiner selbst gelangt“8. Es gehört zu
Teilhards evolutionärer Denkweise, dass er den Menschen „in Richtung immer
Glück und Wahrhaftigkeit
843
höherer Bewußtseinszustände“9 voranschreiten sieht. Dieses „Glück, in der Tiefe
seiner selbst zu wachsen“10, ist jedoch nicht das Ende. Das „Glück, in der Zukunft
in einem Größeren als man selbst einzutauchen und sich zu verlieren“11, beschreibt
eine weitere Entwicklung. Teilhard spricht darauf von dem Mut jener Menschen,
„die ihr Leben um einer Idee willen aufs Spiel setzen oder tatsächlich hingegeben
haben“12.
Und nun kommt das Eigentliche: Im Allgemeinen wird unser Glück dadurch
unterhöhlt und vergiftet, dass wir den Grund, das Ende all dessen, was uns anzieht,
so nahe spüren: Leiden der Trennung und des Verschleißes – Angst der Zeit, die
vorübergeht – Schrecken vor der Gebrechlichkeit der besessenen Güter – Enttäuschung,
so schnell an das Ende dessen zu gelangen, was wir sind, und dessen, was
wir lieben …
Für den, der in einem Ideal oder einem Anliegen das Geheimnis entdeckt
hat, von Nahem oder Weitem an dem in Fortschritt befindlichen Universum
mitzuwirken und sich mit ihm zu identifizieren, verschwinden all diese
Schatten13.
Teilhard sieht die Vollendung des Glücks in der „Freude der Anbetung“.
Sie nährt sich von der Freude zu leben und der Freude zu lieben und
weitet sich immerzu aus, um das gesamte Sein zu erfassen, das Ganze – eben
die immer weiter und tiefer sich erfüllende Erfahrung der Transzendenz: „In
ihrer Fülle bringt [die Freude der Anbetung] einen wunderbaren Frieden mit
sich.“14
„Anbetung“ ist hier die Haltung, die ein Mensch unwillkürlich einnimmt, der
sich in das Ganze hineingestellt weiß und an ihm partizipiert. Dieses Ganze ist
„unerschöpflich“ und entzieht sich daher „jeder Drohung des Todes und des Verfalles“
15. Diese Freude, die entsteht, wenn ein Mensch begreift, dass er ein Element
des Universums ist, das sich mit ihm zu einer immer größeren Vervollkommnung
bewegt, ist das höchstmögliche Glück. Hierin ist der Weg, den ich in diesem Essay
skizziert habe, durch Pierre Teilhard de Chardin bestätigt. Durch Konzentration,
Bemühung und Übung dürfen wir im kosmischen Strom von Rita mitfließen.
Durch beständiges Fortschreiten in der Wahrhaftigkeit können wir uns ins Ganze
der Transzendenz stellen.
Ein solches „Glück“ kann Angst und Erschrecken erzeugen – es sei denn, wir
gewöhnen uns Schritt für Schritt daran. Der Versuch, mit einem Mal in die Fülle
zu springen, kann zum Sturz in eine erschreckende Leere werden. Das Glück
muss gelernt sein, indem wir ein Glückserlebnis nach dem anderen geduldig einordnen
und unterordnen in das Glück der Transzendenz. Darin wird jedes Teilglück
– der berufliche und sportliche Erfolg, die körperliche Liebe, die Begegnungen,
der ästhetische und künstlerische Genuss, die Meditation, das innere Wachsen
und der Fortschritt – als Teil des Gesamten relativiert und untergeordnet, gleichzeitig
aber durch die Teilnahme am Gesamten des Glücks aufgewertet und geradezu
unangreifbar wertvoll gemacht.

Anmerkungen
1 Sudhir Kakar, Die Seele der Anderen. München 2012, 295.
2 So im Glossar zum Stichwort rta in Raimundo Panikkars monumentalem Werk „The Vedic Experience.
Mantramañjari: An Anthology Of The Vedas For Modern Man“. Berkeley 1977.
3 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt 1953, 65.
4 Albrecht Goes, Lichtschatten. Frankfurt 1978, 69.
5 Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Eugene Weber. Frankfurt 1984, 54.
6 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek 1968, 9.
7 Pierre Teilhard de Chardin, Vom Glück des Daseins. Olten 1969, 22 u. 23.
8 Ebd. 23. 9 Ebd. 26. 10 Ebd. 37. 11 Ebd. 38.
12 Ebd. 39. 13 Ebd. 40 f. 14 Ebd. 41. 15 Ebd.

 

 

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