Königstein am 24. Juni 2021
Childaid Network
Leben ohne Armut
Martin Kämpchen
Bis vor gut einem Jahr wohnte ich in Indien. Dann holte mich die Pandemie ein, und ich wurde von der deutschen Bundesregierung evakuiert. In Indien herrschte der totalste aller totalen lockdowns, die ich während meiner fünfzig Jahre in Indien erlebt habe. Kein Rad drehte sich. Kein Zug, kein Bus, kein Auto, kein Fahrrad. Ungewöhnlich für Indien, einem Land, in dem immer noch ein Hintertürchen offen bleibt, durch das man schlüpft, um zu dem Seinen zu kommen. Das brutale Ergebnis kennen wir: Millionen von Wanderarbeitern konnten nicht in ihre Dörfer zurückkehren.
Warum aber wollten sie in die Dörfer zurückkehren? Bisher herrschte die Flucht aus den Dörfern in die Städte vor, denn die Stadt kann einen Menschen immer noch irgendwie ernähren. Die Pandemie kehrte dies um: Die Arbeiter flüchteten aus den Städten in die Dörfer. Tatsächlich haben die Dorfbewohner am wenigsten durch die Pandemie gelitten. Die Landwirtschaft ging ungehindert weiter – sie musste weitergehen, denn die gesamte Bevölkerung Indiens hängt von der Arbeit der Bauern und Tagelöhner ab. Dieses Mal konnte man also auf dem Land noch irgendwie überleben. Zudem können die Regeln des Distanzhaltens besser in der Landwirtschaft eingehalten werden, als in den meisten anderen Berufen.
Seit meiner erzwungenen Rückkehr stehe ich Tag für Tag mit jenen Dörfern in Verbindung, in denen ich vor rund 35 Jahren begonnen habe, Entwicklungsarbeit zu leisten. Erstaunlich, kein einziger Fall von Corona-Erkrankung wurde mir gemeldet. Am Telefon hört man fröhliche Stimmen, während in den Kleinstädten Panikstimmung ausgebrochen war. Wieder zeigte sich die gegensätzliche Prägung der indischen Dorfbevölkerung und der Stadtbevölkerung, die sozial und kulturell-emotional isoliert voneinander existieren.
Um meine Methode der Entwicklungsarbeit zu verstehen, müssen wir von diesem Unterschied zwischen Dorf und Stadt ausgehen. In den ersten sieben Jahren in Indien wohnte ich in Städten – in Kalkutta und in Madras, dem heutigen Chennai. Danach siedelte ich zu jener Universität über, die von dem Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore in dem Ort Santiniketan – 150 Kilometer nördlich von Kalkutta – gegründet worden war. Die Dörfer liegen in unmittelbarer Nähe zur Universität. Seit Beginn habe ich mich zu ihnen hingezogen gefühlt und machte rasch Bekanntschaft mit jungen Menschen aus den umliegenden Dörfern. Ich lernte die Sprache von West-Bengalen, das Bengalische, das ich auch für mein akademisches Studium brauchte. So konnte ich mit der Dorfbevölkerung in einer ihnen geläufigen Sprache kommunizieren.
Die Entscheidung, eher mit Menschen aus den Dörfern zusammenzuarbeiten, anstatt aus einer Stadt, war also leicht und natürlich. Das bedeutete, dass ich unter Menschen anwesend war, die noch kaum Einflüsse von außen erlebt haben. Ich schloss mit zwei Dörfern Bekanntschaft – mit Ghosaldanga und Bishnubati – die anfangs von der Stadtkultur und Stadtmentalität isoliert waren. Ich wurde der erste und lange der einzige Außeneinfluss. Das machte meine Aufgabe einerseits leichter, andererseits trug ich große Verantwortung.
Schritte zu einer zielgerichteten Entwicklungszusammenarbeit vollzogen sich langsam über eine Reihe von Jahren und in einem organischen Wachstumsprozess. Zuerst kam ich in engeren, freundschaftlichen Kontakt mit zwei Schülern aus den beiden Dörfern, die ihre Bildung aus eigener Energie bis zum Schulabschluss vorangetrieben hatten und nun im College studieren wollten. Ihnen half ich über mehrere Jahre hindurch, ihr Studium durchzuführen und abzuschließen. Das bedeutete für mich ein minimales finanzielles Aufkommen, aber eine intensive persönliche Betreuung und Ermutigung der beiden Studenten. Mir war bewusst: Idealerweise können diese beiden Schüler die zukünftigen Initiatoren und Motoren einer Entwicklung in ihren beiden Dörfern und über sie hinaus sein. Um diesen Prozess vorzubereiten, verpflichtete ich beide jungen Männer, als Gegenleistung für meine Unterstützung, in ihrem eigenen Dorf eine Abendschule zu gründen und sie selbst zu leiten.
Die Situation in beiden Dörfern war nämlich: Die Jungen hatten als erste den Schulabschluss geschafft, während alle anderen Kinder nach einem oder zwei Jahren die staatliche Grundschule verlassen hatten. Sie waren Dropouts. Die Gründe waren unterschiedlich. Der wichtigste Grund war mangelnde Unterstützung und Ermutigung durch die Familie und die Dorfgemeinschaft.
Im Fall der beiden Dörfer Ghosaldanga und Bishnubati kam ein wesentlicher Grund hinzu. Es sind zwei Dörfer des Santal-Stammes; sie gehören zur Urbevölkerung Indiens. Ihre Kultur, Religion und Sprache sind verschieden von denen in den Hindu-Dörfern und muslimischen Dörfern. Die Muttersprache ist Santali und nicht, wie in der großen Mehrheit der Dörfer, Bengalisch. Die Unterrichtssprache der staatlichen Schulen ist im allgemeinen Bengalisch. Um dem Unterricht zu folgen, mussten die Kinder unserer beiden Dörfer also eine weitere Sprache erlernen, die nicht in ihrer dörflichen Umgebung gesprochen wird. Eine Abendschule, die mit den Dorfkindern die Hausaufgaben machten und deren Wissen prüften, war also umso notwendiger.
Diese Abendschulen waren die Basis unserer Entwicklungszusammenarbeit, ohne die andere Entwicklungsmaßnahmen nicht beginnen konnten. Wir erlebten, wie immer mehr Eltern ihre Kinder einschulten und immer mehr Kinder ein Schuljahr nach dem anderen absolvierten, ohne abzuspringen. Die beiden Pioniere hatten sich noch mit Willenskraft gegen ihre Eltern oder ihre dörfliche Umgebung durchsetzen müssen, um lernen zu können. Jetzt entstand mehr und mehr ein Sog hin zum Schulbesuch, sodass sich Eltern bald rechtfertigen mussten, wenn sie ihre Kinder nicht zum Unterricht schickten.
Treten wir einen Schritt zurück und fragen uns: Ist dieser Ansatz der Entwicklungsarbeit in Indien der einzig mögliche oder gibt es andere, die ebenso zielführend sind? Ich nenne zwei weitere Ansätze.
Erstens, ein alternativer Ansatz ist, dass ich meinen guten Willen, meine Fähigkeiten und meine Energie bei Menschen einbringe, die auf der Leiter der persönlichen Entwicklung schon einige Stufen erklommen haben; dass ich also mit Menschen zusammenarbeite, die schon Schulbildung oder eine praktische Ausbildung besitzen; dass ich solche Menschen bei bestimmten Projekten einsetze, sie anleite und auch beaufsichtige. Typischerweise beginnen Entwicklungshilfe-Organisationen auf dieser Ebene. Sie arbeiten eher Projekt-orientiert und in einem vorbestimmten zeitlichen Rahmen – nicht so wie ich, der ich mich von vornherein nicht auf Projekte, sondern auf persönliche Begleitung mit einem zeitlich offenen Ende eingelassen hatte.
Zweitens, ein weiterer, sehr verschiedener Strang der Entwicklung kümmert sich um infrastrukturelle Entwicklungen. Eine Wasserpumpe muss installiert werden; Elektrizität soll ins Dorf gebracht werden; eine Brücke muss gebaut, Straßen müssen geteert und erweitert werden. Solche infrastrukturellen Entwicklungsschritte werden selten von den Dorfbewohnern initiiert und gemeistert. Sie sind in der Hand von Investoren und Agenten der Regierung und von Interessengruppen, etwa einer politischen Partei, bei deren Tun die Dorfbewohner kein Mitspracherecht haben. Sie sind stumme, passive Beobachter und nur bestenfalls Nutznießer der Veränderungen. Das Gefühl des Besitzens fehlt und darum werden infrastrukturelle Verbesserungen auch selten von der Gemeinschaft gepflegt und behütet.
Kehren wir zu der von mir skizzierten Entwicklungszusammenarbeit durch private Initiativen zurück. Rekapitulieren wir jene Schritte, die bis hierhin gemacht worden sind und sich immer mehr als eine Methode der Entwicklungszusammenarbeit herauskristallisiert haben.
* Am Anfang steht meine Entscheidung, als Einzelperson und zunächst mit eigenen Mitteln und ohne organisatorischen Überbau eine systematische Arbeit unter Menschen in einer Dorfgemeinschaft zu beginnen.
* Diese Arbeit ist zwar informell und aus eigener Initiative, jedoch systematisch.
* Die Arbeit begann bewusst unter Menschen, die durchgängig analphabetisch waren, und in Dörfern, in denen noch keine staatliche oder private Organisation tätig gewesen ist. Im Entwicklungsjargon war ich ein grassroot-worker.
* Als wichtiger Eintritt in die Dörfer war die Freundschaft mit den beiden bereits schulisch gebildeten jungen Männern. Sie förderte ich – wozu die eigenen Eltern nicht fähig waren – in der Erwartung, dass sie eines Tages die Initiatoren und Motoren der Entwicklung in ihren Dörfern sein würden. Diese persönliche Beziehung und Förderung sehe ich als den Dreh- und Angelpunkt einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit an.
Dazu gehört eine unbedingte Anpassung an die Verhältnisse der Bevölkerung, mit der man zusammenarbeiten will. Diese Anpassung beinhaltet als wichtiges Element das Erlernen der Sprache der Bevölkerung. In meinem Fall habe ich Bengalisch gelernt. Dies ist zwar nicht die Muttersprache der beiden Dörfer, doch sprechen selbst die Frauen, die den geringsten Kontakt zur Außenwelt haben, ein rudimentäres Bengalisch.
Weiterhin gehört zum Prozess der Anpassung ein Abbau der Hierarchien. Die natürliche Reaktion der Dorfbevölkerung ist, die Menschen, die von außerhalb kommen, ehrenvoll wie Gäste zu behandeln. Dieser Status muss unbedingt abgebaut werden und ein Verhältnis der Zusammenarbeit entstehen. Das ist leicht gesagt, jedoch schwer durchführbar.
Die Möglichkeiten, eine Zusammenarbeit zu erleichtern, sind das Feiern gemeinsamer Feste, auch der Familienfeste, sind gemeinsame Mahlzeiten, sodann häufige Gespräche in großer Runde, bei denen alle Teilnehmer ihre Meinungen aussprechen können. Allgemein ausgedrückt: Zur Entwicklungszusammenarbeit gehört, dass die Entwicklungsaktivisten und ihre Partner, die „sich entwickeln“, in ständiger Kommunikation über die Inhalte der Entwicklung sind, und zwar mit maximalem Respekt und in einem Prozess des Lernens und Lehrens auf beiden Seiten. Ich selbst kann bestätigen, dass ich im Zusammenleben mit den Menschen aus Ghosaldanga und Bishnubati für mein Leben viel gelernt habe. Ich habe zum Beispiel Achtung vor der vitalen Kultur und der natürlichen Lebensweise der Santals gelernt und erfahre auch nach 35 Jahren Neues und Erstaunliches.
Welches können die konkreten inhaltlichen Entwicklungsschritte sein? Nach der Einrichtung der Abendschulen, die zur Zeit in rund zehn Dörfern bestehen, folgten Projekte, die bewusst der Lebensweise der Dorfbewohner und ihren unmittelbaren Bedürfnissen am ehesten entsprechen. Wir begannen Bäume entlang der Wege und innerhalb der Dörfer zu pflanzen, Hunderte von ihnen. Bäumepflanzen hat als ein früher Entwicklungsschritt mehrere Vorzüge. Es kostet nichts, verlangt aber eine ausgedehnte und kontinuierliche Gemeinschaftsarbeit der Männer oder Frauen, die die Samen sammeln, in die Erde stecken , bewässern, beschatten und pflegen, bis die Baumschösslinge in dafür vorbereitete Löcher eingesetzt werden. Dann werden die jungen Bäume beschützt gegen Ziegen und Kühe, bis die Bäume stark und widerstandsfähig sind. Dieser planvolle Schritt-für-Schritt-Prozess ist auch ein Lernprozess für die Bevölkerung. Die erwachsenen Bäume verändern die dörfliche Umgebung, die dürren Zweige und Äste sammeln die Frauen für das Kochfeuer, sie entfachen den Stolz der Bewohner und gibt gerade bei den Volksstämmen ein Gefühl von Besitztum und Heimat. Die Natur hat einen großen, geradezu existentiellen emotionalen Wert.
Wichtig ist, dass sich – zu Beginn – die Entwicklungsarbeit aus den realen Bedürfnissen der Menschen organisch entwickelt – Schritt für Schritt und in größtmöglicher Einfachheit. Wer komplizierte Regeln der Mitarbeit aufstellt, um das Tempo der Entwicklung voranzutreiben, wird bald scheitern. Grassroot-Entwicklung braucht ihre Zeit, damit sie mental und emotional nachvollzogen werden kann. Wer komplexe Entwicklungsschritte durchsetzen will, wird sehen, dass ihre Überprüfung einen größeren Teil der Energie verbraucht, anstatt den Schwung und die Freude am Tun auf das Überschaubare und gedanklich wie emotional Nachvollziehbare einzusetzen.
Entwicklung muss organisch sein, fast so wie eine Pflanze wächst und sich entfaltet. Nur dann stellen sich auf beiden Seiten Erfolgserlebnisse ein, die dann den Mut und die Energie zum nächsten Schritt geben. Die Menschen in den Dörfern werden Fähigkeiten erwerben und Verantwortung akzeptieren, wenn es ihnen offensichtlich wird, dass sie notwendig sind.
Zum Beispiel haben wir sehr bald begonnen, einen Kindergarten einzurichten. Dass die Kleinkinder eines Dorfes sich zusammensetzen und miteinander unter Anleitung spielen, ist den Eltern unmittelbar akzeptabel. Sie geben die Kinder gern ab. Damit ein Kindergarten funktioniert, muss jedoch eine Person für die Kinder verantwortlich sein. Auch das sehen die Eltern ein. Also haben wir versucht, nicht immer mit Erfolg, Mädchen und auch Jungen aus den Santal-Dörfern für den Kindergarten auszubilden und einzusetzen.
Andere Projekte, die leicht ausgeführt werden können, sind zum Beispiel die Anlage eines kitchen garden, eines Gemüsegarten im eigenen Familienhof, sind das Aufziehen von Hühnern, Enten, Ziegen, was geringe finanzielle Investitionen verlangt, und die, wenn sie gemeinsam unternommen werden, zu einem fröhlichen Wettstreit führen. Besonders unter Frauen sind Gruppeninvestitionen im Rahmen sogenannter self-help groups erfolgreich und werfen ansehnliche Profite ab, solange man die nötige Disziplin und Geduld aufbringt, was Frauen wesentlich leichter fällt, als Männern.
Als Initiator einer solchen partizipatorischen Entwicklung war es von Anfang an meine Aufgabe, nie eine Entwicklung anzuführen, sondern sie bewusst nur zu begleiten. Das heißt, wenn sich das Leitungsteam von schulisch gebildeten und reifen Menschen aus den Dörfern nach einem Prozess der Diskussion zu einem bestimmten Entwicklungsprojekt entschlossen hat, alle sich über das Wie? und Wann? im klaren sind, dann ist es meine Aufgabe, darauf achtzugeben, dass diese Entscheidungen auch durchgeführt werden. Ich bin der Mahner und Erinnerer, der Fragende und Bittende. Denn die Tendenz zum Verschleppen der Durchführung von Entscheidungen, die Tendenz zur Stagnation in Prozessen ist enorm. Teils ist dies der komplizierten indischen Situation geschuldet, teils aber auch dem mangelnden inneren Druck, etwas zu tun, was man zu tun sich entschlossen hatte. Dies ist übrigens nicht allein ein Manko in der Dorfentwicklung, sondern es charakterisiert die Situation im gesamten Land, auch unter den Höchstgebildeten und Bestbezahlten.
Mir selbst obliegt die gar nicht leichte Pflicht, mich trotz dieses ständigen Energieaufwands dennoch immer zurückzunehmen, immer zu betonen, dass die Menschen der Dörfer im Mittelpunkt der Entwicklung stehen. Aber im besten Fall übernehmen die Pioniere der Dörfer, die ich anfangs gefördert habe, und die sich zu einem Leitungsteam zusammenschließen, allmählich die Rolle der Mahner und Erinnerer und der Fragenden und Bittenden. Dies ist weitgehend im Fall des Entwicklungsprojekts, das ich initiiert habe, geschehen.
Es wird auch bei einer solchen grassroot-Entwicklung der Zeitpunkt kommen, wenn komplexere, komplizierte Strukturen im Organisatorischen notwendig sind, um weitere Fortschritte in der Entwicklung zu erreichen.
* So wird die Zeit kommen, einen eingeschriebenen Verein zu gründen, um durch staatliche oder private Stellen finanzielle Mittel zu bekommen.
* Die Finanzen müssen angeworben und dann kompetent und ehrlich verwaltet werden.
* Im Lauf der Entwicklung sind auch infrastrukturelle Projekte nicht zu vermeiden, etwa der Kauf von Grundstücken und Land, der Bau von Schulgebäuden und die Organisation von Gehältern und der Lebensbedingungen der Angestellten. Eine besonders notwendige und auch besonders herausfordernde infrastrukturelle Verbesserung ist der Bau von Toiletten. Wir können keine Schule bauen oder keine Abendschulen betreiben, wenn nicht auch die Gelegenheit zum Toilettengang besteht. Toiletten gehören dringend zum pädagogischen Angebot jeder dörflichen Entwicklung. Toiletten zu bauen kann kostspielig sein, besonders wenn alle Hygieneregeln eingehalten werden. Eine Wasserpumpe muss in der Nähe der Toilette entweder vorhanden sein oder muss installiert werden. Die Reinigung und der Erhalt der Toilette und ihre Benutzung muss ständig kontrolliert werden. Es ist erstaunlich, wie schwer sich Dorfbewohner von der Gewohnheit, im Offenen in der Nähe ihres Dorfes zu entleeren, lösen können. Die Abneigung, „innerhalb der vier Wände“ zu defäkieren, bleibt über Generationen bestehen, auch während die Bevölkerung mehr und mehr schulisch gebildet wird.
Je mehr Menschen in dem Entwicklungsprozess verantwortlich eingebunden werden, desto mehr Strukturen entstehen und desto komplexer wird die Arbeit. Es bleibt der menschlichen Reife des Leitungsteams überlassen, sich konsequent nach zwei Richtungen zu orientieren: Erstens, es muss das Bestreben bleiben, das Organisatorische so klein wie möglich und den mitmenschlichen Kontakt so intensiv, persönlich und flexibel wie möglich zu halten. Ich bemerke, dass die Verantwortlichen in den Dörfern den – durchaus verständlichen – Drang haben, die Angestellten und die Schüler/innen zu kontrollieren, um die Qualität der Arbeit zu erhalten. Dabei ist Übertreibung eine Gefahr. Zum Beispiel legte das Finanzkommittee in unseren beiden Dörfern fest, dass alle Angestellten ein Tagebuch darüber führen, was sie jeden Tag geleistet haben. Zwei oder drei Monate lang haben sie sich um die Einhaltung dieser Regel bemüht, danach geriet sie in Vergessenheit. Einen so hohen Grad an Disziplin sind die Angestellten, die sämtlich aus dem Bereich der umliegenden Dörfer stammen, nicht gewohnt.
Zweitens, der Blick muss immer auf die ganzheitliche (holistische) Entwicklung der Einzelnen gerichtet bleiben. Mit den „Einzelnen“ sind alle Menschen gemeint, die im Prozess einbegriffen sind: die Schüler/innen, aber auch die Lehrer/innen und Angestellten, die Menschen im Leitungsteam und ich selbst – wir alle sollen uns auf eine ganzheitliche, kreative Weise weiterentwickeln. Dazu muss die Möglichkeit bestehen, dazu müssen auch die Finanzen bereit stehen. Ich kenne allzu viele Organisationen, die mit allen nötigen Mitteln für ihre Entwicklung der Zielgruppe ausgestattet werden, deren Angestellte jedoch ausgebeutet werden.
Zu einer holistischen Entwicklung im Bereich der Dörfer gehört die Pflege von Tanz, Musik, Theater und Kunst. Von einer solchen musischen Pädagogik sollen nicht nur die Schüler profitieren, sondern auch die Lehrer/innen und die anderen Angestellten.
Seit fast 25 Jahren unterhält unser indischer Verein, der „Ghosaldanga Bishnubati Adibasi Trust“, mit der Hilfe des deutschen Fördervereins, der „Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati e.V.“ in Frankfurt, eine Tagesschule für die Santal-Kinder der gesamten Umgebung. In der Schule lernen Santal-Kinder in ihrer Muttersprache Santali und erhalten, neben den Kernfächern, Unterricht in Musik, Kunst und Sport. Vom Förderverein ausgesucht, kommen jedes Jahr drei, vier oder fünf Freiwillige aus Deutschland, stets junge Menschen kurz vor oder im Studium, um mit den Kindern zu spielen, zu basteln, mit ihnen Theater zu machen und Sport zu treiben. Die Kinder nehmen das Wesentliche ihrer Kultur auf, gleichzeitig aber erhalten sie kreative Impulse von außen, auch Freundschaft und Zuneigung von Fremden. Die ganzheitliche Entwicklung soll also stets danach streben, Grenzen zu überschreiten. Darum habe ich von Anfang an darauf gedrängt, dass die Pioniere unserer Arbeit, die von Beginn mit uns zusammengearbeitet haben, auf Reisen gehen und ebenso den Generationen unter ihnen Gelegenheit zu Exkursionen und Aufenthalten außerhalb des Dorfes geben.
Eine komplexe Situation entsteht, wenn die Jugendlichen ihre Schul- oder Collegeausbildung mit Unterstützung der Vereine in Indien und Deutschland abgeschlossen haben und nun eine Ausbildung beginnen sollen. Das bedeutet, sie lösen sich von ihrer bäuerlichen Existenzgrundlage und streben einen Beruf als Angestellte, Händler oder Handwerker an. Dieser Wechsel vom Bauernsein zu einem Dorf-unabhängigen Leben mit sehr verschiedenen Rhythmen und Anforderungen bedeutet einen enormen mentalen und emotionalen Sprung. Es ist ein paradigmatischer Wechsel, der verarbeitet werden muss und eben oft auch nicht gelingt. Hier sind komplexe Strukturen unvermeidbar und man muss sich an sie gewöhnen. Die Lösung vom bäuerlichen Dasein, selbst wenn man im Dorf wohnen bleibt, ist eine oft leidvolle, mit inneren Spannungen behaftete Überschreitung von Grenzen, wobei das Leitungsteam begleiten und ermutigen muss.
„Grenzen überschreiten“ ist wohl ein Leitthema meiner Methode, Entwicklung auf der Ebene der Dörfer anzuregen. Es ist eine außerordentlich kreative Herausforderung, jeweils auszuloten, welcher Schritt im Entwicklungsprozess als nächstes wichtig und möglich ist. Ideengeber darf ich sein, doch die Entwicklung, ich wiederhole, soll partizipatorisch sein – soll also stets vom Leitungsteam und von den Dorfbewohnern insgesamt angenommen werden. Natürlich muss der einmal erreichte Entwicklungsstand erhalten bleiben, was sehr viel Mühe kostet, aber gleichzeitig wollen wir ständig weiterdenken, welche Möglichkeiten echter Entwicklung als nächstes wichtig sind. Also Management des Be-stehenden und Kreativität, um nicht stehen zu bleiben – beides ist wesentlich.