Rabindranath Tagore “Gedichte und Lieder” – in “NZZ”
Prophet und Sänger – Dichtungen von Rabindranath Tagore
Neue Zürcher Zeitung
Samstag, 23. April 2011
Es war ein denkwürdiger Abend, jener 7. Juli 1912, als der Bengale Rabindranath Tagore, vermittelt durch seinen Künstlerfreund, den Landschaftsmaler William Rothenstein, im Kreise erlauchter Londoner Dichterschaft seine Gedichte vorlas. William Butler Yeats ist elektrisiert von dem Erlebnis; ein regelrechtes Tagore-Fieber bricht daraufhin aus in den Salons Europas und Amerikas. Das Buch «Gitanjali» wird innerhalb kürzester Zeit gedruckt, und bereits im folgenden Jahr, 1913, erhält Tagore als erster Inder und erster Asiate überhaupt den Nobelpreis für Literatur.
Befangen in seiner Rolle
Das war natürlich auch ein politisches Statement: eine Anerkennung der Kultur kolonialisierter Völker und ein Bruch mit dem Eurozentrismus dieser höchsten literarischen Weihe. Tagore war sich seiner Rolle als Repräsentant des «Ostens» allzu gewahr. Auf Fotos erscheint er immer sehr würdevoll, fast statisch trotz seinem wallenden Haupthaar, dem wallenden Bart und den wieder wallenden Gewändern. Er lächelt nie. Das Image des Propheten hat ihn berühmt gemacht, hat ihm als Lyriker aber nicht gutgetan. «Gitanjali» ist ein dünnes Bändchen, Literatur von der Art, wie wir sie dem Orient lange zuschrieben: «pazifistisch, anämisch, ein bisschen blass», wie Thomas Mann nach einem Treffen mit Tagore reserviert verlauten liess. Auch Rilke hat Tagores Gedichte nicht ins Deutsche übersetzen wollen, obgleich der Literatur- und Religionswissenschafter Martin Kämpchen Tagore am nächsten bei Rilke sieht.
Tagore stammt aus einer der kulturell bedeutenden Familien Kalkuttas. Er war das vierzehnte Kind – heute sagt man in Indien: Hätte man damals schon Familienplanung praktiziert, gäbe es den Nationaldichter nicht. Im Hof des palastähnlichen Hauses hat Rabindranath mit den Geschwistern seine ersten Theaterstücke aufgeführt, hat selbst Regie geführt und singend, tanzend auf der Bühne gestanden. Tagores Kreativität war schier unerschöpflich. Bis ins hohe Alter, als er das Malen für sich entdeckte und – wie nebenbei – die moderne indische Malerei begründete. In Erinnerung werde er indes mit seinen Liedern bleiben, war Tagore selbst überzeugt. Über 2000 davon zählt man, Hunderte davon sind im Volk – auch unter den Analphabeten – allgemein bekannt und sind heute noch stundenlang im Radio zu hören.
Zeit für eine Wiederentdeckung
Eine Auswahl dieser Lieder bringt Kämpchen nun in neuer Übersetzung im Insel-Verlag heraus: Gedichte über das Sehnen zerbrochener Gefässe und aus Lichtmetaphysik und Brautmystik fein gesponnene Gesänge. Dann gibt es aber auch viel Antiasketisches, Weltzugewandtes, ja Alltägliches: wie das herzzerreissend schöne Gedicht von den spielenden Kindern am Strand des Weltmeers; das Gespräch zweier Brüder darüber, ob man den Mond wohl fangen kann; und die charmante Mahnung an die Väter, nicht alle weissen Papiere vollzuschreiben und stattdessen ihre Kinder darauf malen zu lassen. Wieder ist es ein schmaler Band, dessen dichterische Kraft aber mit wenigen Worten kaum zu umreissen ist. Will man literarische Vergleiche finden, dann steht Rabindranath Tagore dem persischen Dichter Jalal ad-Din Rumi wohl näher als Rilke. 2011, im Jahr von Tagores 150. Geburtstag, wäre er als eine Figur der Weltliteratur neu zu entdecken – mit diesem Band hat er seinen Nobelpreis nachträglich noch einmal verdient.
Rabindranath Tagore:
Gedichte und Lieder. Aus dem Bengalischen übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Kämpchen. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2011. 151 S.