Vierzig Jahre Indien
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11.08.2013 · Seit 1973 lebt unser Autor auf dem Subkontinent. Er hat die bengalische Sprache gelernt, Literatur übersetzt, den Armen geholfen – und besitzt weder Fernseher noch Kühlschrank. Über den Reichtum einfachen Daseins.
Von Martin Kämpchen
© Samiran Nandy
Martin Kämpchen in den achtziger Jahren im Dorf Ghosaldanga, in dessen Nähe er seit langem wohnt.
Angekommen in Indien 1973. Und seitdem nicht zurückgekehrt? – Aha! Das war zur hohen Zeit der Hippie-Invasion. Muss das damals herrlich gewesen sein. Dann nicht mehr von Indien weggekommen, wie? Du krallst dich in einer der Hippie-Enklaven fest und bist damit beschäftigt, dass dein Haar lang bleibt und nicht ausfällt? – Weit gefehlt. Von Anfang an war ich nicht Aussteiger, sondern Einsteiger in das indische Leben. Mich bewegen spirituelle Fragen, ich habe die indischen Religionen studiert, drei Jahre in einem Hindu-Ashram gelebt und danach mit indischen Jesuiten. Ich habe die bengalische Sprache gelernt, habe nicht nur in Madras (dem heutigen Chennai) und Kalkutta gewohnt, also in Großstädten, sondern betreibe seit fast dreißig Jahren Entwicklungsprogramme in zwei Stammesdörfern in West-Bengalen. Ich wollte dieses Leben in seiner Tiefe und Breite erfahren und mit den Menschen zweckvoll zusammenleben, also: einsteigen, nicht am Strand meinen Blütenträumen nachhängen.
1973, das war noch ein Jahrzehnt vor dem Eintritt nationaler Fernsehprogramme ins Leben der indischen Mittelschicht; heute dudelt es tagein, tagaus im Wohnzimmer wie ein zappeliger Dauergast. Das war noch vor dem Eintritt des Telefons ins private Leben; nur Büros und das Postamt besaßen den Draht nach draußen. Zwanzig Jahre später sprossen die Telefonzellen wie Pilze aus jeder Straßenecke. Heute sind alle verwaist, weil sich die Bevölkerung bis zum analphabetischen Schuhputzjungen innerhalb eines knappen Jahrzehnts mit Mobiltelefonen ausgestattet hat, sie haben das Lebensgefühl revolutioniert. Das kommunikationssüchtige Volk hat genau das Spielzeug bekommen, das es sich erträumt hatte.
© Samiran Nandy
Martin Kämpchen bei einem Vortrag an der Universität von Santiniketan in diesem Jahr.
1973 war noch vor der massenhaften Produktion von handlichen Generatoren und batteriebetriebenen Backup-Systemen, die den chronischen Strommangel, der das gesamte Land nach wie vor plagt, zumindest für die Mittelklasse erträglich machen konnte. Die ersten zwanzig Jahre konnte ein schwülheißer Tag, durch Licht und Deckenventilator produktiv gemacht, plötzlich zu einem von funzeligen Öllämpchen in seinem Elend nur noch drastischer beschienenen schwarzen Loch verwandelt werden. Mit der Elektrizität schaltete sich der Kopf ab, Schreiben, Lesen, Meditieren oder Nachdenken wichen dem kreatürlichen Überlebenswillen.
Zwei Wochen für einen Luftpostbrief
1973 gab es noch ganz unromantische Dampfloks (weil der rußige Qualm in die offenen Fenster hineinwehte) und Züge mit Dritter-Klasse-Abteilen (mit Bretterbänken). Das Wort „Computer“ war noch nicht erfunden, geschweige das Ding selbst, darum geschah alles manuell und eben träge und fehlerhaft: die Buchungen der Züge, die Banktransaktionen, die Papierkriege mit den Büros. Um eine Platzreservierung zu finden, hasteten wir den gesamten Zug entlang und überflogen die ausgehängten Listen an jeder Abteiltür auf unsere (meist phantasievoll falsch geschriebenen) Namen. Das war die Zeit, als in Kalkutta noch wie in London die Doppeldeckerbusse fuhren, aber sonst nichts. Nach und nach kamen Minibusse, Auto-Rikschas, Privatbusse und klimatisierte Luxusbusse hinzu. Damals brauchte ein eingeschriebener Luftpostbrief nach Deutschland zwei Wochen oder länger, ein Briefwechsel also mindestens einen Monat. Die frohen und die tragischen Nachrichten aus der Familie erreichten mich zu einem Zeitpunkt, an dem ich mir nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt noch stimmten.
Ans Telefon habe ich mich nie gewagt; es hätte stundenlanges Warten an dem notorisch unfreundlichen Telephone Exchange Office bedeutet, bis eine Leitung nach Deutschland frei würde. Ich begnügte mich mit dem Rhythmus, den die Post vorgab. Jeder Brief, dessen Ankunft bestätigt wurde, war eine Erleichterung, jede Antwort eine Freude. Meine ersten Berichte für diese Zeitung habe ich Mitte der neunziger Jahre noch per Einschreiben an die Redaktion geschickt. Als Nächstes beherrschte das Fax-Gerät die Kommunikation, und in den letzten fünfzehn Jahren hat das Internet den Lebensrhythmus explodieren lassen. Zumindest in den Städten. Die Dorfbewohner haben zwar die Schreibmaschinen in die Ecke gestellt, doch die Computerkultur hat ihr Leben noch nicht erreicht.
Seit dreiunddreißig Jahren heißt meine Adresse: Santiniketan, West-Bengalen (hundertfünfzig Kilometer nördlich von Kalkutta). An diesem „Ort des Friedens“, so die Übersetzung, hat der indische Nationaldichter Rabindranath Tagore die zweite Hälfte seines Lebens verbracht, 1901 eine Schule gegründet und zwanzig Jahre später eine Universität. Nach dem Studium der Religionswissenschaft haben mich drei Entdeckungen von der Rückkehr nach Deutschland abgehalten. Einmal, die in der ganzen Welt bekannte „The Gospel of Sri Ramakrishna“. Doch die englische Übersetzung der Gespräche des Hindu-Heiligen Ramakrishna – „Bibel der einfachen Hindus“ genannt – ist keine Übersetzung. Sie ist eine idealisierende und sprachlich nivellierende Paraphrase eines monastischen Jüngers. Mit diesen Gesprächen fand ich, als ich sie zu Beginn meiner Indienzeit las, Eintritt in den komplexen Kosmos des Hinduismus. Sie sind kein nüchterner Lehrtext, sondern die geistigen Erfahrungen eines Menschen, der seine Religion in ihrer Vielfalt, aber auch vieles Widersprüchliche, verkörperte. Hier zeigt sich der Hinduismus als Denkweise und Lebensform. Als ich erschrocken die Diskrepanz zwischen Original und Übersetzung bemerkte, wollte ich Ramakrishnas Worte in ihrer vollen Kraft erfassen und dieses Werk für uns retten. Fünfundzwanzig Jahre arbeitete ich an der exakten Übersetzung des bengalischen Originals in adäquates Deutsch. Anderswo als in Bengalen wäre das nicht möglich gewesen.
Nur einmal Sehnsucht nach Deutschland
Dann die englische Prosaübersetzung von Tagores Gedichten, die der Dichter selbst anfertigte. Für sie erhielt er 1913 den Nobelpreis, und sie war die Grundlage für Übersetzungen in fast alle Weltsprachen. Als ich die originalen Gedichte las, entdeckte ich mit Verwunderung ihre Kraft, ihre Vielfalt, die Energie in ihrem Pathos. Die englischen Nachdichtungen sind wie Schatten dagegen. Also begann ich die bengalische Lyrik in deutsche Gedichte zu formen, zwanzig Jahre lang. Wie hätte das fern vom Genius Loci gelingen können?
Schließlich, auf meinen nachmittäglichen Fahrradtouren durch Reisfelder und an Lehmhütten entlang kam ich mit Bauern und neugierigen Kindern ins Gespräch, übte mein holpriges Bengalisch und schloss Bekanntschaften. Eine entfaltete sich in eine Entwicklungszusammenarbeit mit den beiden Santal-Stammesdörfern Ghosaldanga und Bishnubati. Das Prinzip war: junge Menschen mit Führungsqualitäten finden, sie fördern, ihnen Schule und College ermöglichen und sie im Gegenzug für den Dienst an ihrer Dorfgemeinschaft anleiten, sie für weitere Aufgaben im Dorf fachlich und seelisch vorbereiten. Das ist ein langer Weg, aber diese organische Entwicklung von innen heraus, mit Unterstützung von außen, ist der einzig solide und nachhaltige. In den letzten dreißig Jahren hat sich diese Arbeit auf andere Dörfer ausgeweitet; unsere Schulen, die medizinische Betreuung, handwerkliche Ausbildung und die kulturellen Aktivitäten sind verantwortlich in Händen der Dorfbewohner; aber meine Mentorfunktion bleibt.
Nur einmal hat es mich gereizt, nach Europa zurückzukehren; zur Zeit der Wende. Als vor unseren überraschten Augen innerhalb von zwei Jahren Reiche zusammenbrachen, sich Deutschland vereinte und Osteuropa um demokratische Lebensformen rang, träumte ich davon, an diesem Neuanfang teilzuhaben. So viel aufregender erschien es als das zähe Kämpfen um Schüler und Schülerinnen, die lieber die Ziegen hüteten, als den Unterricht zu besuchen. Aber wie könnte ich die Menschen inmitten einer hoffnungsvollen Entwicklung fallenlassen? Mit Schrecken wurde mir Mal um Mal bewusst, dass nur einige Worte oder eine bescheidene Summe Geld, zur rechten Zeit an die richtige Person ausgeteilt, ein Leben ändern kann. In der unstrukturierten Atmosphäre der armen Gesellschaftsschicht ist die persönliche Hinwendung der sinnvolle Weg zu einem menschenwürdigen Leben. Im Allgemeinen sind in Indien dafür die Familien zuständig. Die Älteren weisen den Weg, und die Jüngeren freuen sich, nicht selbst suchen zu müssen; sie folgen willig. Doch heutzutage ist die Bevölkerung so stark gewachsen, und mit ihr die Armut, dass die Familie die Bedürfnisse ihrer Mitglieder nicht mehr befriedigen kann. Breitere Kreise müssen sich helfend zusammenschließen.
Besitz ohne Bedarf ist Diebstahl
Aus zwei Gründen lebe ich so anspruchslos wie möglich. Zunächst, Einfachheit tut gut, sie lehrt uns, die Dinge in ihrem Eigenwert zu schätzen. Das Wenige lässt uns Freiheit – Freiräume, die auch Geist und Gefühl erfrischen. Dann, in Indien ist Einfachheit immer ein Teilen mit jenen, die weniger besitzen. Mahatma Gandhi lehrte: Alles, was wir besitzen, ohne es wirklich zu brauchen, ist Diebstahl an den Armen. Ich wohne in einem Miet-Bungalow mit zwei Zimmern und großer Veranda, auf der ich meine Gäste empfange. Kein Fernseher, kein Radio, kein Kühlschrank, keine Mikrowelle und keine Waschmaschine – nur mein Werkzeug, um meinen Beruf auszuüben: Laptop, Drucker und Scanner, Telefon, Internetanschluss und USB-Stick, falls Broadband ausfällt. Die vielen jungen Leute, die aus den Dörfern erscheinen, finden eine Umgebung vor, die der ihren ähnlich ist, und fühlen sich wohl. So finde ich eine Ebene mit ihnen und kann sie leichter zum Engagement in ihrer Dorfgemeinschaft motivieren. Luxus ist das große Grundstück um mein Haus, auf dem sich Dutzende Bäume selbst gepflanzt haben und wild und hoch gewachsen sind und eine Vielfalt von Vögeln anziehen. Sie höre ich frühmorgens, wenn ich auf der Veranda, wo ich auf dem Boden schlafe, aufwache. Die Natur ist stark und greift täglich ins Leben ein: Hitze und Luftfeuchtigkeit bis zu 95 Prozent im Sommer und der Regenzeit, Gewitterstürme, so heftig, dass die Bäume und Äste in der Umgebung laut zu Boden krachen. Moskitos, Schlangen, Termiten, Schimmel, Küchenschaben, Silberfischchen – vor ihnen muss ich mich täglich schützen, damit sie nicht mein Leben an sich reißen.
Bis Mittag bleibe ich allein und schreibe. „Auch wenn Gott Krishna anklopfte, würde ich ihm sagen: Herzlich willkommen, doch bitte erst nach zwölf“, sage ich meinen Gästen. Auch Studenten von der Universität, seltener Professoren, erscheinen dann, Gäste aus Kalkutta und aus Deutschland, eine oft gemischte Gruppe, die ich alle mit gleicher Achtung behandeln möchte. Ich empfinde es als Labor einer klassenbewussten Gesellschaft, die für diese paar Stunden zusammenwachsen soll. Ein spätes Mittagessen, nur eine Gemüsesuppe, zu der ich auch spontan Gäste einlade, eine Siesta, welche die Hitze aufnötigt, und die Schreibtischarbeit geht weiter. Jahrzehntelang bin ich nachmittags per Rad nach Ghosaldanga und Bishnubati gefahren, um mit den Menschen zusammenzusitzen, mich mit ihnen zu unterhalten, das Abendessen zu teilen und zu übernachten. Ein Bauer schuf hinter seinem Hof eine winzige, aber kompakte Lehmhütte, in der ich wohnte. Aus diesem Zusammenhang besprachen wir, die Schüler, die Bauern und ich, was wir für unser Dorf tun können. Vieles ist seitdem versucht worden, Vieles hat Bestand, und eine Generation von gebildeten, verantwortungsbewussten Menschen ist herangewachsen. In den letzten Jahren fahre ich seltener in die Dörfer. Wenn ich überhaupt nicht mehr gebraucht werde, ist mein Ziel erreicht.
Wie kannst du inmitten der Armut ein sinnvolles Leben gestalten? So lautet eine häufige Frage an mich in Deutschland. Antwort: Indem ich mich für die Armen unmittelbar und so radikal wie möglich einsetze. Übrigens wissen wir in Deutschland von der Armut in Indien und anderswo detailliert Bescheid. Fotos, Statistiken, Reportagen. Deshalb die Frage zurück: Wie könnt ihr mit dem Wissen um die Armut leben?
Familie und Bürokratie sind ewig
Im Kampf der Armen um den täglichen Reis, um das Notwendige, das man mit korrupten Mitteln oder aber im Kampf gegen Korruption zu bekommen sucht, empfinde ich mich im Zentrum der Welt. Hier sind die Menschen mit jenen Problemen hart konfrontiert, die die globale Mehrheit bedrängen: Hunger und Mangelernährung, Wasser- und Energieknappheit, Arbeitslosigkeit, dann soziale Ungerechtigkeit, Bildungsmangel, chronische Krankheiten wie Tuberkulose, Alkoholismus, Bevölkerungsexplosion und neuerdings Klimawandel. Das Leben ist so spannend und spannungsreich, so unmittelbar und die Probleme so aggressiv ins Leben eindringend wie nirgendwo.
Was ist so geblieben wie vor vierzig Jahren? Zum Beispiel die Mentalität. Ich sehe keine Änderung in der Beziehung zwischen der Mittelschicht und den Armen, außer dass die Zahl beider Lager mächtig anschwillt und die Kluft zwischen ihnen breiter wird. Die Mittelschicht kapselt sich zunehmend ab, bildet immer höhere Mauern um ihren Lebensstil, der oft so unverfroren konsumorientiert ist, als wollten die Menschen demonstrieren, wie gut es ihnen geht. Die Hierarchien bleiben, auch wenn mittlerweile Tausende von Bürgerinitiativen zugunsten armer und unterprivilegierter Gruppen tätig sind. Echte Solidarisierung hieße, sich demokratisch auf eine Ebene mit ihnen zu stellen; das gelingt selten, nicht zuletzt weil „die da unten“ sich an „die da oben“ gewöhnt haben und mit dem Begriff Gerechtigkeit auf Anhieb wenig anfangen können.
Geblieben ist der ausgeprägte Familiensinn, obwohl gern behauptet wird, mit dem Schrumpfen der Familie schwinde auch die Hingabe an Eltern und Kinder. Die traditionelle Familie ist eines der großen Themen der wertebildenden Bollywood-Filmindustrie. Ebenso ändert sich der labyrintische, korrupte Bürokratismus kaum. Wer glaubte, der Computer vereinfache die bürokratischen Prozesse, hat sich geirrt. Auf einigen Banken herrscht eine neue Version der „doppelten Buchführung“ – Transaktionen werden zuerst ins Computersystem eingehackt, dann in klobige Folianten, die eine Hand kaum heben können, eingetragen. Man traut dem Computer noch nicht, der alles verschluckt. Wer garantiert, dass er es wieder ausspuckt?
Eine melancholische Entfremdung
Wo ist deine Heimat? fragen mich Freunde in Deutschland. Wann sagst du: Ich fliege nach Hause? Früher, als die Eltern lebten und ich nur alle zwei Jahre nach Deutschland fliegen konnte, war Heimat am Mittelrhein, aber der Lebensmittelpunkt in Indien. Dort habe ich meine Aufgabe als Schriftsteller, Übersetzer und Journalist gefunden, eine Aufgabe, die kein anderer in gleicher Weise wahrnimmt: Kulturvermittlung auf verschiedenen Ebenen aus dem indischen Lebenszusammenhang heraus. Heimat war dennoch in Deutschland, weil ich in Frankfurt ankam und ich alles verstand. Wie die Züge fuhren, die Gespräche der Menschen in den Cafés, die Bedürfnisse und Erwartungen der Studenten wie der Professoren, die Themen in den Zeitungen, die Theateraufführungen in den Städten. Die Zusammenhänge erschlossen sich mir flugs.
Mit den Jahren ist eine melancholische Art der Entfremdung eingetreten, obwohl ich inzwischen zwei-, dreimal im Jahr zwischen Europa und Indien fliege. Ich bin dankbar für die Pünktlichkeit der Züge und den Sitzplatz, der in jedem Bus noch für mich frei ist, doch erlebe ich Deutschland mehr und mehr im Austausch mit meinen Lesern. Das hängt damit zusammen, dass die zwei Generationen, die mittlerweile großgeworden sind, vielfach mit Themen beschäftigt sind, die mir unnötig, oft banal, erscheinen. Und meine Generation unterhält sich über Pension oder Rente und nette Reisen, sie pflegt ihren Garten und findet Erfüllung in Großelternpflichten. So wird Deutschland für mich eher Rückzugsgebiet für gesammeltes Schreiben, Lesen, Energietanken. Erstaunt bin ich, wie wenige Menschen, die mich treffen, tatsächlich die Lebenssituation Indiens genauer als nur in ein paar Stichworten begreifen wollen.
Dagegen lebe ich in Indien weiter im Dickicht der Dorfarbeit mit vielen jungen Menschen; im Austausch mit Dutzenden Intellektuellen unternehme ich immer noch den Versuch, Indien zu verstehen, um dieses Land in so vielen Facetten wie möglich im deutschen Sprachgebiet realistisch vorzustellen: seine Literaturen und seine Religionen, sein Dorfleben und seine Denk- und Lebensweise. Wie vor vierzig Jahren erfreue ich mich an der Lebensunmittelbarkeit insbesondere der jungen Menschen, ihrer Begabung, mit der Natur zu leben, ihrer Kommunikationsfähigkeit, ihrer Begeisterung und angeborenen wachen Fröhlichkeit. Dies alles möchte ich nicht missen. Hat mich Indien verändert? Der Hinduismus lehrt, dass die belebte und unbelebte Welt beseelt ist. Daraus entfaltet sich eine Kosmosfrömmigkeit, die ohne Schwärmertum eine deutliche Beziehung zu Mensch und Welt und den transzendenten Dingen aufbaut. In Europa hätte ich diesen Reichtum nie erfahren.
Doch bei aller Nähe zu den Menschen, ihre engen Familienbande schließen mich aus. Erst die Familie, danach der Freund, auch der geschätzteste. Das bedeutet Einsamkeit – aber auch die Freiheit, ohne Bindung an gesellschaftliche Konventionen kreativ die Lebensweise zu wählen, die mir für meinen Beruf und meine geistige Verwirklichung angemessen erscheint. Auch noch nach vierzig Jahren als Ausländer allein und mit eingeschränkten Rechten und Visumspflicht zu leben, fällt mir nicht leichter als früher. Doch die Dankbarkeit überwiegt, dass diese Jahre nicht fruchtlos blieben.