Aus dem Englischen übersetzt und erschienen in Meine Welt (1/2013)
[Ursprünglich erschienen in The Statesman am 26. März 2013]
Das Dilemma, wie man die indische Literatur einer angemessenen Zahl von Lesern in Deutschland anbietet, hat derzeit nur eine Lösung: der Einsatz eines kleinen Verlags geleitet von einer engagierten und kompetenten Person, schreibt Martin Kämpchen
Die Art, wie der indische Buchmarkt weiter wächst, ist atemberaubend und auch inspirierend. Sie gibt uns verschiedene Lektionen. Erstens: Indiens boomende Mittelklasse entwickelt endlich wieder einen Geschmack fürs Lesen. Nachdem das Fernsehen langsam seinen Reiz verliert, wird das Lesen von Büchern und Zeitungen wieder zu einer Option, die Zeit nach der Arbeit sinnvoll zu verbringen. Zweitens: Die viel bejubelte Attraktion des Computers, des Internets und der sozialen Netzwerke betrifft eine große Zahl von Menschen. Wenn wir aber den Prozentsatz der Gesamtbevölkerung betrachten, die in Indien den Computer benutzen, kommen wir nur auf eine einstellige Zahl, vor allem weil der Umgang mit Computern Kenntnisse der englischen Sprache voraussetzt. So kommt es, dass die Computer die Lesegewohnheiten (von Büchern in indischen Sprachen) noch nicht an den Rand drängen.
Wenn wir nach Europa, vor allem nach Deutschland, schauen, ist die Situation nicht annähernd so hoffnungsvoll; sie ist eher düster. Kürzlich schrieb ein Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Andreas Platthaus, der deutsche Buchmarkt sei von einer fundamentalen Transformation, die seine Existenz bedroht, betroffen. Der am stärksten destabilisierende Einfluss gehe vom Internet aus. Große globale Internet-Unternehmen wie Amazon bieten an, Bücher zu verkaufen und sie an der Haustüre ihrer Leser abzuliefern. Sie können mit ihrer Kreditkarte bezahlen, wieder über das Internet. Das ist einfach, zeitsparend, auch halbwegs sicher.
In Deutschland ist das Internet viel weiter vorgedrungen als in Indien. Das hat zwei Auswirkungen: Zum einen reichen ein paar Klicks, um Bücher zu kaufen, zum andern hat das Verlangen, Bücher zu lesen, nachgelassen. Computer-Spiele, DVD-Filme, soziale Netzwerke, das Herunterladen von Musik macht so viel mehr Spaß, nicht wahr?
Die Internet-Firmen verlangen von den Verlagen große Rabatte, und sie bieten nur das an, „was sich verkauft”. So kommt es, dass es für kleine und weniger konkurrenzfähige Verlage noch schwieriger ist, ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Früher war Deutschland mal stolz auf tausende von wohlsortierten Buchhandlungen mit gut ausgebildeten Mitarbeitern, die die Bücher auch tatsächlich lasen, die sie ihren Kunden empfohlen. Hunderte dieser Buchläden haben geschlossen. Sie wurden ersetzt durch große, unpersönliche supermarktähnliche Buchketten, die Mainstream-Bücher stapeln und Nischenverlage und weniger populäre Themen vernachlässigen.
Angesichts dieser Entwicklungen überrascht es nicht, dass es Indien, und insbesondere indische Literatur und Kultur, schwer haben, ihre Existenz spürbar zu machen. Ist Indien in Deutschland nicht bekannt, beliebt und wohlpräsentiert? Ist Indien nicht auf besondere Weise kulturell und emotional mit Deutschland verbunden? Ja, in der Tat. Frankreich und Italien, Griechenland und Spanien, Skandinavien und Russland haben jedoch engere kulturelle und emotionale Bindungen an Deutschland. Europa wächst ökonomisch zusammen, zunehmender Tourismus, transnationale Ehen und Austauschprogramme, die im Schulalter beginnen, helfen mit. Daher fühlen sich die meisten Deutschen den europäischen Nachbarländern mehr verbunden als Indien. Aufgrund der kolonialen Vergangenheit des Landes lernen indische Schüler und Studenten bestimmt mehr über Europas Geschichte, Geographie und gesellschaftliches Leben, als wir in Deutschland über Indien lernen. Das akademische Leben ist in Deutschland immer noch weitgehend eurozentrisch, obwohl sich diese Situation bemerkenswert verbessert hat, weil nahezu alle Universitätsstudenten heute zur Weiterbildung einige Monate oder ein Jahr außerhalb Europas verbringen, und viele von ihnen finden ihren Weg nach Indien, um durch das Land zu reisen oder in einer NGO zu arbeiten.
Hinzu kommt, dass Indien als ein Land mit einer uralten und reichen Kultur nicht mehr dieselben romantischen Sehnsüchte weckt, wie dies vor zweihundert Jahren in der Romantik oder vor fünfzig Jahren in der Zeit der Hippies und Blumenkinder der Fall war. Insgesamt ist Indien in vielerlei Hinsicht zu komplex, zu vielsprachig, zu schwierig und verwirrend, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die es verdient. Wenn nicht mehr genügend natürliche Attraktion besteht, müssen die Freunde Indiens und Inder selbst versuchen, sie zu herzustellen. Angesichts seiner globalen kulturellen Bedeutung sollte Indien sich nicht damit zufrieden geben, dass nur ein kleiner Teil seiner Literatur ins Deutsche übersetzt ist. Die Literaturen Chinas oder Japans und diejenigen kleiner europäischer Länder wie Italien und Spanien werden angemessener repräsentiert. Deutschland ist stolz darauf, die größte Zahl literarischer Text aus anderen Sprachen zu veröffentlichen, viel mehr als beispielsweise die USA. Die indische Literatur ist jedoch vorrangig durch indische Romane, die auf Englisch verfasst worden sind, vertreten. Salman Rushdie, Amitav Ghosh, Arundhati Roy, Amit Choudhuri, Kiran Nagarkar und einige andere sind bekannte Namen. Einige von ihnen haben eine feste Anhängerschaft, so etwa Amitav Ghosh, der mir einmal sagte, dass sich seine Bücher außerhalb des englischsprachigen Markts am besten in deutscher Übersetzung verkaufen.
Immer wieder klagen indische Autoren, die ihre Werke in indischen Sprachen verfassen, darüber, dass ihre Bücher, egal wie ausgezeichnet sie sind, niemals die nationale und internationale Anerkennung erlangen, die ihre Kollegen, die auf Englisch schreiben, ernten können. So ist die Lage auch in Deutschland. Wer wurde, abgesehen von Rabindranath Tagore, aus dem Bengalischen übersetzt? Sunil Gangopadhyay (ein Roman), Alokeranjan Dasgupta (der Deutschland zu seiner Heimat gemacht hat), Mahasweta Devi (verschiedene Romane und Erzählungen), Buddhadev Bose (ein Roman). Ist das genug?
Der springende Punkt ist natürlich die Verkäuflichkeit. Einstimmig erklären die Mitarbeiter großer Verlage, dass „sich indische Bücher nicht verkaufen lassen“. Die letzte Gelegenheit war die Frankfurter Buchmesse von 2006 mit Indien als Gastland. Eine Lawine von Büchern über Indien und von indischen Autoren überschwemmte den Markt, darunter auch einige Bücher, die aus indischen Sprachen übersetzt worden waren. Ungefähr 60 Schriftsteller reisten nach Frankfurt, um über ihre Bücher zu sprechen oder aus ihnen zu lesen. Die indische Regierung mit ihren unterschiedlichen kulturellen Institutionen war an vorderster Front damit beschäftigt, indische Literatur zu präsentieren. Zwei Jahre später machte ich eine Untersuchung und entdeckte, dass sich mit wenigen Ausnahmen die meisten Bücher, darunter Klassiker wie O. V. Vijayans „Die Legenden von Khasak“ und Khushwant Singhs „Der Zug nach Pakistan“, miserabel verkauft haben. Als Konsequenz daraus haben große Verlage Indien praktisch aufgegeben. Daher sind in den darauffolgenden Jahren bis heute nur sehr wenige indische Bücher erschienen. Es gab einige kommerzielle Höhepunkte: Aravind Adigas „Der weiße Tiger“, der mehrfach nachgedruckt wurde, und, erstaunlicherweise, Buddhadev Boses „Das Mädchen meines Herzens“, aus dem Bengalischen von Hanne-Ruth Thompson übersetzt, von dem mehr als 10.000 Exemplare verkauft wurden.
Was kann getan werden, um die Verkäuflichkeit zu verbessern? Auf verschiedenen Veranstaltungen habe ich eine Buchreihe vorgeschlagen, eingegliedert in einen großen Literaturverlag, der durch sein Renommee und seine Größe das Potential hat, Leser zu erreichen. Letztes Jahr diskutierte ich diese Idee mit Michael Krüger, dessen Hanser Verlag ein großer unabhängiger Literaturverlag ist. Er war gerade vom Literaturfestival in Jaipur zurückgekehrt und drückte seine Bewunderung für die Vitalität der indischen Literaturszene aus. Wie wäre es, einiges davon nach Deutschland zu übertragen? Aber Krüger sprach sich dagegen aus, indische Literatur in einer Buchreihe zu isolieren. Dies seien Krücken, die die indische Literatur nicht nötig habe. „Gute Bücher dürfen sich nicht scheuen, mit Literaturen aus anderen Sprachen zu konkurrieren“, sagte er. „Geben Sie mir ein gutes Buch von einem indischen Autor, und ich werde es veröffentlichen!“
Leichter gesagt als getan. Wer wird Bengali-, Hindi-, Tamil- oder Malayalam-Bücher auswählen, die eine Chance haben, auf dem internationalen Markt zu bestehen? Erst wenn sie übersetzt sind – und gut übersetzt sind –, kann ein Verleger den Text lesen und dem Druck zustimmen. Es gibt nur wenige Übersetzer, die in der Lage sind, literarische Texte von indischen Sprachen direkt ins Deutsche zu übertragen. Übersetzungen über das Englische sind philologisch inakzeptable geworden, weil zu viel von der Eigenart des Originals verloren geht. Das Dilemma, wie man indische Literatur einer genügend großen Zahl von deutschen Lesern anbieten kann, bleibt bestehen.
Die Rolle des Draupadi Verlags
Das Dilemma, wie man indische Literatur einer genügend großen Zahl von Lesern in Deutschland anbieten kann, hat auf absehbare Zeit nur eine Lösung: der Einsatz eines kleinen Verlags, geleitet von einer engagierten und kompetenten Person. In den vergangenen Jahrzehnten ist das dreimal geschehen. Wolf Mersch verlegte indische Literatur in den 1980er Jahren. Ihm folgte Roland Beer, dessen Lotos Verlag in den 1990er indische Literatur verbreitete. Die Arbeit dieser beiden Verleger wurde schon früh durch Krankheit gestoppt. Vor genau zehn Jahren begann der Draupadi Verlag in Heidelberg seine Tätigkeit. Die treibende Kraft ist Christian Weiß, der zunächst für einen großen Verlag arbeitete, bevor er sein eigenes Unternehmen gründete. Der Fokus aller drei Verleger war und ist die Literatur in den indischen Sprachen. Der Draupadi Verlag ist ein kleines Unternehmen. Christian Weiß wählt die Texte aus, lässt sie übersetzen, redigiert sie (zum Teil selbst, zum Teil mit Hilfe seiner Mitarbeiter) und lässt sie drucken. Er ist ein Idealist, sein Mentor ist Alokeranjan Dasgupta. Er strebt nicht nach hohen Gewinnen, und sein Lebensstil ist einfach und bescheiden. Weiß’ Stärke ist sein großes Engagement für indische Literatur und seine weitreichenden Kontakte zur indischen Literaturszene. Er reist mit indischen Autoren umher, wenn sie Deutschland besuchen, er organisiert Lesereisen und besucht Buchmessen und Seminare. Überall wo indische Kultur in Deutschland diskutiert und präsentiert wird, entdeckt man mit Sicherheit Christian Weiß, wie er still hinter einem Verkaufstisch sitzt, auf dem sich Bücher seines Draupadi Verlags stapeln.
Seit 2003 hat er mehr als siebzig Buchtitel herausgebracht. Darunter sind 15 Übersetzungen aus dem Hindi, fünf aus dem Bengali, jeweils zwei aus dem Tamil und Malayalam und vier aus dem Englischen. Unter den Autoren, die er verlegt hat, sind Uday Prakash, Nirmal Verma, Geetanjali Shree, Ajneya, K. Satchidanandan und Mahasweta Devi. Einige Bände über Rabindranath Tagore und eine Zahl von Anthologien mit indischer Lyrik, indischen Essays und Kurzgeschichten ergänzen das Programm.
Das ist ein beeindruckendes Ergebnis. Es wurde mit erstaunlich geringen finanziellen Mitteln erreicht, unterstützt von Übersetzern und Lektoren, die genauso idealistisch sind wie Weiß. Es wurde erreicht, indem für die meisten Buchprojekte mühsam Sponsoren gefunden wurden. Vereine, Stiftungen, große Unternehmen, die manchmal Geldmittel für ehrenwerte kulturelle Zwecke ausgeben, staatliche Institutionen, darunter auch indische Ministerien und der National Book Trust haben den Draupadi Verlag unterstützt. Weil er mit dem zufrieden sein muss, was verfügbar ist, können seine Bücher nicht immer perfekt sein. Aber was Christian Weiß unter so schwierigen Bedingungen erreicht hat, ist erstaunlich.
Je nach der Gestaltung eines Buches muss ein Mainstream-Verlag etwa 3000 Exemplare eines Titels verkaufen, um einen Gewinn zu machen. Der Draupadi Verlag ist auch mit weniger als 1000 verkauften Exemplaren pro Titel zufrieden. Einmal konnten mehr als 2200 Exemplare eines Titels verkauft werden, und zwar von Baby Halders autobiographischem Werk „Kein ganz gewöhnliches Leben“. So bescheidene Auflagen sind einerseits eine Möglichkeit, Texte zu veröffentlichen, die interessant sind, jedoch keine hohen Verkaufszahlen erwarten lassen. Andererseits werden Bücher, die sich nicht gut verkaufen, nicht vom Großhandel aufgenommen, wo die meisten Buchhändler ihre Bücher bestellen. Deshalb verschickt Christian Weiß viele Bücher selber an Käufer oder Buchhandlungen – ein schreckliches Geschäft.
Christian Weiß hat eine Gruppe von engagierten Unterstützern, die bei ihm Bücher bestellen und ihm helfen. Einer davon ist Jose Punnamparambil, ein Journalist mit Wohnsitz in Deutschland, der die Zeitschrift „Meine Welt“ herausgibt, die sich an die indische Diaspora in Deutschland richtet. Seit mehr als drei Jahrzehnten publizierte diese Zeitschrift indische Lyrik und Kurzgeschichten. Sie veröffentlicht Besprechungen von Büchern des Draupadi Verlags und anderer Verlage und weckt Interesse für die indische Literatur, wodurch der Draupadi Verlag neue Leser erhält.
Kommt das den Lesern in Kolkata nicht bekannt vor? Haben wir nicht solche kleinen Verlage und Buchläden in der College Street und Umgebung, die ihre Arbeit in bescheidenen Räumen verrichten, ohne sich von zahlreichen Schwierigkeiten, von beschränkten finanziellen Mitteln, vom Fehlen eines Vertriebsnetzes abschrecken zu lassen? Und doch setzen sie ihre Arbeit fort, und im Rückblick stellen wir fest, dass sie durch ihre Hartnäckigkeit und Ausdauer die Landschaft der Gegenwartsliteratur verändern. Sie sind Waffenbrüder von Christian Weiß.