Christ in der Gegenwart (Verlag Herder, Freiburg) Nr. 1 / 6.Januar 2013
Indien und die Frauen
Selten zuvor hat das Schicksal eines einzelnen, unbekannten Menschen die indische Gesellschaft so aufgewühlt, wie in den letzten zwei Wochen die namenlos gebliebene dreiundzwanzigjährige Studentin, die in Neu-Delhi auf brutalste Weise von einer Gruppe Männer vergewaltigt und schwer verletzt zurückgelassen wurde. Sie den Kampf ums Überleben in einem Singapurer Krankenhaus verloren.
Während die junge Frau im Krankenhaus lag, wurden mindestens vier weitere Massenvergewaltigungen berichtet; andere werden den Weg bis zu den Medien nicht gefunden haben. Die Nachricht über eine Kindervergewaltigung erschien, eine weitere über den Freitod eines vergewaltigten Mädchens, das von der Polizei nicht angehört wurde. Diese Schicksale waren nur eine Nachricht wert. Warum also die nationale Erregung in diesem Fall? Es handelte sich um eine Frau aus der städtischen Mittelklasse, eine Studentin, die von ihrem männlichen Freund begleitet wurde (der niedergeschlagen wurde), die gegen 21 Uhr in einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Bus, vergewaltigt wurde. Die Frau war nicht aufreizend gekleidet, angesichts der kalten Winter in Neu-Delhi ohnehin eine Unmöglichkeit.
Das heißt, die Frau und ihr Begleiter haben nichts „falsch“ gemacht, nichts, was sich nach traditioneller indischer Vorstellung „nicht gehört“. Sie ist nicht allein hinausgegangen, sie hat keinen Nachtklub, sondern einen Film besucht, sie war nicht um Mitternacht unterwegs. Dass diese Katastrophe dennoch stattgefunden hat, es ist ein Versagen des Gesellschaftssystems. Anderen Opfern konnte man unangemessenes Verhalten vorhalten, und Politiker haben dies immer gern getan, um die Schuld auf die Opfer abzuwälzen.
Dieses von einer breiten Öffentlichkeit erwartete konforme Verhalten stellt, an modernen Maßstäben gemessen, schon eine Entwürdigung der Frau dar. Mädchen haben es allgemein schwer, Männern gleichgestellt werden. Dafür ist wesentlich verantwortlich das soziale Übel der Mitgift, die, obwohl illegal, noch so weit verbreitet eingefordert wird, daß sie nicht nur für arme Familien ruinös ist. Hinzu kommt, daß Mädchen nach der Heirat ihre Familien verlassen müssen, also ihnen nicht mehr nützlich sind und vor allem die Eltern im Alter nicht versorgen können, wie es von Söhnen erwartet wird.
Die paternalistische Hierarchie Indiens, die weiterhin bestimmend ist, verlangt, daß Frauen nur mit einer männlichen Begleitung akzeptiert werden – also mit Vater, Onkel, Bruder, Ehemann oder mit einem Sohn. Alleinstehende oder allein sich in der Gesellschaft bewegende Frauen setzen sich dem Vorwurf der Immoralität aus und sind in Gefahr, als „Freiwild“ behandelt zu werden. Ebenso sind Frauen aus der armen Schicht außerhalb ihres Lebensumkreises, etwa Frauen, die als Dienstleistende in den Häusern der Mittelklasse arbeiten, gefährdet, immer wieder erfährt man von Übergriffen.
Nur ein paradigmatisches Umdenken innerhalb der Gesamtgesellschaft kann Abhilfe schaffen. Das heißt, notwendig ist eine neue Wertschätzung der Frau als Individuum und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Also eine Öffnung hin zu einem modernen, selbstbewußten Bild der Frau. Das wirft als erstes die Frage auf, ob die Frauen diese Unabhängigkeit wünschen oder doch die Rolle der beschützten, vom Mann abhängigen Frau vorzieht. Einzig moderne Erziehung kann auf längere Sicht einen solchen Wandel forcieren. Doch Schulerziehung ist bisher nur ungenügend Ferment in der gesamten Gesellschaft. Kürzlich machte Amartya Sen, Indiens Nobelpreisträger für Ökonomie und des Landes soziales Gewissen, darauf aufmerksam, daß Indien, was Schulbildung betrifft, im Weltvergleich am vorletzten Platz steht. Statistisch noch schlechter schneidet nur Indiens Nachbar Pakistan ab.
Martin Kämpchen