Schätze des Himmels – irdisch: Rabindranath Tagore (“Christ in der Gegenwart”)

Christ in der Gegenwart

Nr. 48, 27. November 2011

Schätze des Himmels – irdisch

Von Martin Kämpchen
Wer Rabindranath Tagores (1861-1941) Leben betrachtet, dem wird deutlich, dass ihm nichts Menschliches fremd blieb. Er erfuhr das Glück eines harmonischen Familienlebens ebenso wie die Trauer um die früh verstorbene Ehefrau; die Höhen des Weltruhms und die Tragik, drei seiner fünf Kinder sterben zu sehen. Er erlebte die Ekstase und Seligkeit, vollkommene Gedichte und Lieder zu schreiben, und die drängende Unruhe nach Neuem und Vollkommenerem; die Genugtuung, mit den Großen seiner Zeit im Austausch zu stehen, die er auf seinen Reisen traf und mit denen er Briefe wechselte, und die Bedrückung von Einsamkeit, von existenzieller Verzweiflung, von der die Gedichte der letzten Lebensjahre zeugen.Ebenso wie er am vollen Leben teilnahm, hat er uns in seinem Werk das Leben in seiner Fülle zurückgegeben. Tagore gilt als Dichter der Welt- und Lebensbejahung. Er musste den religiös-kulturellen und sozialen Rahmen seiner Zeit durchbrechen, um zu einer solchen Weltbejahung zu finden. Die generelle Haltung des Hinduismus, in dessen Umfeld Tagore aufgewachsen war, ist in der Tat eher weltfeindlich. Die Welt wird als m?y?, als eine Illusion, als nicht eigentlich wirklich angesehen. Wirklich und erstrebenswert sei allein Gott. Der Weg, den der Hinduismus zu Gott vorschreibt, ist geprägt von Askese, also der Abwendung von der sinnenhaft erfahrbaren Welt. Dagegen verkündet Tagore, er wolle sich an Gott und an der sinnenhaft erfahrbaren Welt erfreuen.

Begehren und Entsagen

Albert Schweitzer sieht in seinem Buch „Die Weltanschauung der indischen Denker” die indische Philosophie als einen langen Kampf zwischen Weltbejahung und Weltverneinung und stellt fest, dass sich bei Tagore „die ethische Welt- und Lebensbejahung … völlig durchgesetzt hat. Sie beherrscht die Weltanschauung und duldet nichts von Welt- und Lebensverneinung neben sich … Dies bedeutet eine große Tat. Eine seit Jahrhunderten in Gang befindliche Entwicklung kommt bei ihm zu ihrem natürlichen Abschluss.” Schweitzer notiert, Tagore verlange, dass das östliche Denken – neben der Sehnsucht nach dem „Eins-Werden mit Gott” – eine positive Beziehung zur Welt brauche. Gleichzeitig wünscht er von „den europäischen Menschen” Innerlichkeit und eine „geistige Hingebung an Gott”.

In einem Gedicht schreibt er programmatisch diese berühmten Verse: „Im Entsagen Freiheit zu finden, / ist mir nicht vorherbestimmt. / In zahllosen Banden verstrickt, kost ich / der Freiheit unsäglich Entzücken.” Dieses Paradox, wie man Gott und die Freude an den Eindrücken der Sinne gleichzeitig „genießen” kann, hat Tagore ein Leben lang auf unterschiedliche Weise zu beschreiben, zu deuten und zu feiern versucht. In einem anderen Gedicht heißt es, eher lapidar: „Wer mag, soll mit geschlossnen Augen in sich schauen, / ob man der Wahrheit dieser Welt kann trauen. / Um das Licht des Tags zu saugen, / sitz ich derweilen da – mit unersättlichen Augen.”

Existenzieller und komplexer behandelt das Gedicht „Wie sehr hab ich die Welt geliebt” die Symbiose von Gottes- und Weltliebe. Eine Strophe daraus lautet: „Wie mein tiefstes Begehren / wahr ist und echt, / so ist mein tiefstes Entsagen / aufrecht und fest. / In beider Mitte jedoch herrscht eine heimliche Einheit. / Wie könnte sonst / das All eine so entsetzliche Spannung / so lange Zeit so heiter ertragen.”

Begehren und Entsagen sind nach Tagore keine gegensätzlichen Kräfte, sondern besitzen eine „heimliche Einheit”, die sie miteinander verbindet und voneinander abhängig macht. Sonst würden Begehren und Entsagen die Welt in eine solche Spannung versetzen, dass sie auseinanderreißt.

Die schier grenzenlose Welthaltigkeit von Tagores Lyrik ist mit der Goethes vergleichbar. Während sich dessen Welthaltigkeit rasch ins Erotische wendet und er darin seinen Kosmos geheimnisvoller Vielfalt entdeckt, führt uns Tagore in eine andere Richtung. Charakteristisch für ihn ist, dass er die Festigkeit der Welt, die er mit allen Sinnen aufnimmt und feiert, nach und nach verallgemeinert, „entdinglicht” und auflöst.

Die Sehnsucht des indischen Empfindens besteht darin, immer höhere und umfangreichere Einheiten in die Sinneserfahrung, in das intellektuelle Verstehen und das Gefühl aufzunehmen, was notwendig zu immer größerer Abstrahierung führt. Zum Beispiel: Zuerst ist es die Blume, auf die sich der Blick richtet, dann das Leben in der Natur allgemein, dann die belebte und die unbelebte Natur, schließlich die Welt und der Kosmos.

Am Beginn dieses Prozesses bei Tagore steht, dass er die Sinneswahrnehmungen mit Gefühlen überschüttet – mit Liebe, Sehnsucht, ekstatischer Freude -, so dass allmählich die Gefühle die Konkretheit der Sinneswahrnehmung „aufweichen”. So werden die Phänomene der sinnenhaft wahrnehmbaren Wirklichkeit zum „All-Gefühl” verwandelt, das nicht mehr nur diese ursprüngliche Sinneswahrnehmung umgreift, sondern sie kosmisch ausweitet. All-Liebe, All-Sehnsucht, All-Freude werden daraus.

Am fernsten Fenster der Welt

Unweigerlich hat die kosmische Ausweitung – zumindest in Indien – eine religiöse Bedeutung. Das Kosmische entwickelt sich zur mystischen Schau, die letztendlich auch das Kosmische übersteigt und auflöst. Ziel in Indien ist immer das Göttlich-Absolute, Brahman. So wird im folgenden Gedicht Tagores das „Meer der Vielfalt” und der „Nektar des Lebens” – also die phänomenale Welt – dem „Jenseits” und der „Ewigkeit” gegenübergestellt: „Ich tauche ein ins Meer der Vielfalt, / um den Juwel des Jenseits zu fangen. / Mit meinem lecken Boot kann ich nicht mehr / von Ort zu Ort gelangen. // Die Zeit ist nun gekommen, / dem Ansturm der Wellen standzuhalten. / Ich sinke tief in den Nektar des Lebens; / im Sterben werde ich die Ewigkeit gestalten.”

Wie sich das Individuum in der konkreten Welt verorten kann und gleichzeitig das Fenster zum Ewigen öffnet, zeigt Tagore zum Beispiel in einem seiner Abschiedsgedichte, geschrieben im Todesjahr 1941: „Allein sitze ich am fernsten Fenster der Welt, / im Himmelsblau erkennt das Auge eine Nachricht des Ewigen. / Das Licht erscheint, gemischt mit Schatten, / und weht des ?iris-Baums grün-liebliche Freundschaft mir zu. / In mir tönt es – es ist nicht mehr fern, nicht mehr fern. / Der Weg verliert sich hinter der sinkenden Sonne. / Stumm stehe ich am Tor der Feierabend-Herberge. / Ein fernes Licht leuchtet von Zeit zu Zeit / auf der Spitze des Tempels, in dem die Wallfahrt endet. / Am Königstor ertönt die Melodie des endenden Tages, / in deren Wandlungen sich alles spiegelt, was schön war im Leben. / Was mein Wesen berührt hat auf dieser langen Reise, / hat mir die Ahnung der Fülle geschenkt. / In mir tönt es – es ist nicht mehr fern, nicht mehr fern.”

Endlich unendlich

Im Vergleich mit einer zentralen Strophe aus Goethes Gedicht „Grenzen der Menschheit” erkennen wir den Unterschied, der nicht nur Tagore von Goethe, sondern vielleicht Indien von Europa trennt: „Denn mit Göttern / Soll sich nicht messen / Irgend ein Mensch. / Hebt er sich aufwärts / Und berührt / Mit dem Scheitel die Sterne, / Nirgends haften dann / Die unsicheren Sohlen, / Und mit ihm spielen / Wolken und Winde.”

Goethes religiöses Gefühl achtet das Gegenüber von Göttern und Menschen. Der Gegensatz zwischen Menschen und Göttern ist unüberwindlich. Eine Erhebung der Menschen hin zu den Göttern wertet Goethe als Vermessenheit. Die Götterwelt lässt sich allenfalls erahnen. Und die Menschen können Göttern nur ahnend ähnlich werden. Dagegen kennzeichnet den indischen Mythos ein ständiges Spiel zwischen Gott und Mensch, zwischen Göttlichem und Menschlichem. Ergebnis ist eine Vermischung der Sphären des Göttlichen und des Menschlichen.

Tagore spielt mit der Durchlässigkeit dieser Sphären, mit der Vergöttlichung des Menschen und der Vermenschlichung des Göttlichen, oder – anders gesprochen – mit den unendlichen Möglichkeiten, (menschliche) Endlichkeit und (göttliche) Unendlichkeit miteinander in Beziehung zu setzen. Und er scheut sich – im Gegensatz zu Goethe – nie, Gott als sein persönliches Du anzusprechen. In einem bekannten Lied Tagores heißt es: „Mitten im Endlichen spielst du, / Unendlichkeit, deine Melodie.”

Aus Tagores Gedichten und Liedern spricht eine überströmende Liebe zur Natur, die sich, den beschriebenen indischen Geistesgesetzen entsprechend, in eine Kosmosfrömmigkeit ausweitet. Für ihn sind die „Dinge” der Natur eben niemals nur Dinge, sondern Wesen, beseelte Wesen, mit denen der Dichter in einen Austausch tritt und die sich untereinander austauschen: „Wind und Wasser, Licht und Himmel, / wann kann ich je mit Liebe sagen: Ihr seid mein? / In meines Herzens Kammer werden sie / in vielen Gestalten versammelt sein.”

Gerade die kleinsten und die erhabensten Wesen der Natur haben den Dichter so stark ergriffen, dass er in einem Brief zu folgendem erstaunlichen Ausspruch fähig war: „Ich liebe die Erde, die still zu meinen Füßen liegt, so sehr, dass ich ihre ganze Unermesslichkeit, mit ihren Bäumen und Blättern, Flüssen und Feldern, ihrem Lärm und ihrem Schweigen, ihren Morgen und ihren Abenden, mit diesen meinen Armen umfangen möchte. Ich frage mich, ob wir jemals von einem Himmel die Schätze bekommen, die uns die Erde schenkt.”

Gott als persönliches Du

In seinen Liedern feierte Tagore die Jahreszeiten, vor allem den Frühling und die Regenzeit, die ihn am tiefsten inspirierten. Das Treiben der Natur nach einem öden Winter und einem heißen Sommer, ihre Farben, ihre Energie, ihre Freude verführten Tagore zu religiöser Gestimmtheit. Gott als persönliches Du dynamisiert die Natur. In ihr zeigt sich Gottes Wesen und erfüllt nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen: „Das junge Reisfeld sieht aus, / als habest du grünen Nektar ausgegossen. / Ebenso ist in mein Herz / unendliche Schönheit geflossen. / Schau, wie auf die dunklen Wolken / dein tiefes Leuchten fällt;?/ ebenso hast du auf mein Herz / deine Füße gestellt.”

In einem poetischen Parallelismus von Natur und Mensch spiegeln sich die Gemütsbewegungen des Menschen in der Natur. Das ist eine beliebte Technik auch der deutschen romantischen Schriftsteller. Aber Tagore geht über diese romantische Spiegelung hinaus. Sein Gedicht stellt fest, dass das göttliche Du die Natur mit seiner Schönheit und seinem Licht, mit seinem Schmerz und seiner Schwere begabt und beseelt, aber ebenso auch die Menschen. Es herrscht ein unaufhörliches Strömen zwischen Gott, Natur und Mensch, zwischen Sinnenerfahrung und ihrer mystischen Überhöhung. Das Persönliche wird entgrenzt, ein Zustand, den die Romantiker feierten und den auch Rilke noch spürte.

Rainer Maria Rilke ist jener moderne Klassiker, der unter den Deutschen Tagore am nächsten steht. Aus seinen Briefen ist bekannt, dass Rilke begeistert war von Tagores 1912 entstandener englischer Gedichtsammlung „Gitanjali”, die er in André Gides französischer Übersetzung las. Zwischen Tagore und Rilke bestehen zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten, insbesondere beim geistigen Spiel zwischen Dinglichkeit und der Entgrenzung der dinglichen Welt.

Ein Abschnitt aus Rilkes Gedicht „Mir zur Feier” zeigt dies treffend: „Kann mir einer sagen, wohin / ich mit meinem Leben reiche? / Ob ich nicht auch noch im Sturme streiche / und als Welle wohne im Teiche, / und ob ich nicht selbst noch die blasse, bleiche / frühlingsfrierende Birke bin?” Und doch macht dieses Gedicht auch die Grenzen des Vergleichs mit Tagore offenbar. Die Fragen, die Zweifel, die Rilke bei dieser Entgrenzung des Persönlichen befangen, würden dem indischen Dichter nicht einfallen. Es sind abendländische Fragen und Zweifel.

Aus der dynamischen Beziehung zwischen Gott, Natur und Mensch entfalten sich Rabindranath Tagores drei große Themen: Gott, Natur, Liebe. Sie beeinflussen einander und fließen ineinander. Liebe heißt darum niemals nur die erotische Liebe zwischen Mann und Frau. Sie bedeutet ebenso die Liebe zwischen Menschen und Gott oder dem Göttlichen sowie die Liebe der Mutter zum Kind und des Kindes zur Mutter, wobei in all diesen Formen der Liebe eben auch eine Spur Erotik fließt.

Tagore hat bis ins hohe Alter Liebesgedichte geschrieben, auch erotische Lyrik. Sie ist häufig von subtiler Feinheit, der Andeutungen genügen. Oft leuchtet der spielerische Eros des Hindugötterpaares R?dh? und Krishna durch. Manchmal waltet aber auch Deutlichkeit. Liebe ist das große Thema der Dichter, und Rabindranath Tagore ist keine Ausnahme.

Im Jahr des 150. Geburtstags wirkt Rabindranath Tagore meist wie eine Ikone: ruhig, statisch, unantastbar – darum auch ein wenig rätselhaft. Seine Aussagen wirken wie unanfechtbare Worte, weil sie aus jenem ernsten, nie lächelnden Mund stammen, weil jenes feierliche Gesicht sie verbürgt. Teilweise ist Tagore selbst daran „schuld”, dass man ihn mit einem Heiligen, mit „Gott Vater”, dem „Messias”, einem „Propheten” und „Weisen aus dem Morgenland” verwechselte. Er wehrte die Verehrung nicht entschieden genug ab, obwohl er in Briefen ihre bedrückende Irrealität, die ihn so gänzlich falsch verstand, immer wieder beklagte.

Das Theater als Traditionsbrecher

Gerechter wird man ihm, wenn er als Zerstörer der Konvention, des Überkommenen, erkannt wird. Zeit seines Lebens hat er gegen veraltete Übereinkünfte und Regeln gekämpft und neue Maßstäbe gesetzt. Das stimmt nicht nur für literarischen Stil, für literarische Themen und Handlungen. So hat er die realistische bengalische Kurzgeschichte geschaffen. Er hat mit seinen Theaterstücken die indische Dramenkunst in die Moderne geführt. Mit seiner ins Groteske, Bizarre weisenden Malerei, die er im Alter von 67 Jahren begann, begründete er die moderne indische Malerei.

Interessant ist Tagores Leistung als Thea­termann. Im Theater werden nicht nur literarische Traditionen gebrochen, sondern stets auch soziale Normen angegriffen und neue soziale Normen in die Tat umgesetzt. Genau das hat Tagore getan. In seinem frühen Stück „Valmiki Pratibha” stand zum ersten Mal eine Frau aus – wie es hieß – „einer ehrenwerten Familie” auf der Bühne, anstatt Jungen in Frauenkleidern, wie es bisher üblich war. In „Mayar Khela” spielten die weiblichen Mitglieder des Tagore-Haushalts sämtliche Rollen, einschließlich der männlichen – eine als skandalös empfundene Umkehrung der bisherigen Tradition. Später schrieb er das Stück „Natir Puja”, das keine einzige männliche Rolle besitzt.

Kritik am institutionellen Hinduismus und am modernen Industriezeitalter fehlte nicht. Rituelle Tempelbesuche, Tieropfer, das Kastenwesen wurden auf der Bühne verurteilt und ein liberaler Buddhismus als Ideal angeboten. Das Stück „Muktadhara” klagte die Eindämmung der Flüsse an. Es wurde 1922 geschrieben und ist ein vi­sionärer Blick auf das heutige Indien, in dem Dämme und Wasserverteilung zu den schwerwiegendsten sozialen Problemen gehören. „Raktakarabi” von 1924 schildert die sozialen Folgen der Bodenausbeutung durch unkontrollierten Bergbau – ein brisantes indisches Problem der Gegenwart.

Tagore durchbrach jahrhundertealte soziale Regeln. Er eroberte sich die Themen der Moderne und gründete sie auf den Fundamenten von Harmonie des Zusammenlebens und internationaler Brüderlichkeit. Das war für ihn keine gefühlige Lebensphilosophie, sondern ein durch bewusste Regelverstöße erfochtenes Prinzip. Hierin erfüllte sich Tagores Liebe zur Welt.

Hierin erfüllte sich aber auch Tagores Liebe zu Gott. Indem er Sichtweisen und Lebensregeln des Hinduismus angriff und neu zeigte, wie Gott zu erfahren ist, beweist sich seine Gottesliebe in der praktischen literarischen Tat. Sein ständiger Hinweis auf den Buddhismus gab seiner Religionskritik eine besondere Schärfe.

Der Zauber des Trostes

Ein großer Dichter erschafft eine eigene Welt, die er der wirklichen Welt entgegenhält, nicht um zu vergleichen, sondern um die wirkliche Welt noch reicher und köstlicher zu machen. Rabindranath Tagore war ein solcher „Ur-Poet”, der mit dem Zauber der ganzen Welt erfüllt war und darum die Welt neu erschaffen und deuten konnte. Er vermag jene ursprüngliche Bestimmung des Dichters zu erfüllen: den Menschen Trost zu spenden. Des Dichters Wort hebt den Leser und Sänger über sein gewöhnliches und oft so beschwerliches Leben hinaus und gibt ihm Bedeutung – das ist existenzieller Trost.

Zwei Erlebnisse haben mich in diesem Eindruck bestärkt. Eines hatte ich zu Beginn meines Indien-Aufenthalts während eines Besuchs in einem Dorf in Süd-Bengalen. Ein junger Bauer, dem wir auf seinem Feld begegneten, wollte uns freundlich willkommen heißen. Er sang für uns ein Lied von Tagore gerade dort, wo er stand: barfuß auf seinem Feld. Seine Stimme war nicht ausgebildet, aber dennoch sanft und voller Gefühl. Sie war ein Gegensatz zu ­seinen rauen Arbeiterhänden und verschrammten Füßen.

Das zweite Erlebnis hatte ich im ­Ashram der Ramakrishna-Mission von Narendrapur, südlich von Kalkutta. Eines Abends betrat ich das Zimmer zweier Collegestudenten. Sie waren dabei, ein Gedicht von Rabindranath vorzutragen. Sie saßen nebeneinander und sprachen es kraftvoll und mit einer Stimme in dem pathetischen Singsang der bengalischen Rezitationsweise. Ihnen liefen die Tränen über die Wangen, so sehr waren sie in den Stimmungen des Gedichts befangen.

Rabindranaths Lieder zu singen und seine Gedichte zu sprechen, war für den analphabetischen Bauern und für die beiden Studenten mehr als Zeitvertreib oder Vergnügen, sogar mehr als ein Bildungserlebnis. Der Dichter wurde ihnen zum großen Tröster. Die Ängste, die uns anfallen, wenn wir unser Leben anblicken, unsere Vergangenheit wie unsere Gegenwart mitsamt ihrer Zukunft, mehr noch: wenn uns die Leere des nächtlichen Himmels bewusst wird und wir uns die gewaltige Spanne Zeit vorstellen, inmitten der wir unser Leben bestehen müssen – solche Ängste können nur die Worte eines Dichters wie Rabindranath Tagore bannen.

So vermittelt uns die Lektüre von Tagores Lyrik das Gefühl, uns in einer Tradition zu bewegen, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Trotzdem bleibt der Dichter konkret und persönlich. Geschichten oder Gedichte wollen Ideen und Philosophien nicht begrifflich festlegen. Sie versuchen, Verständnis für das Ganze zu wecken durch die Beschreibung einer Einzelheit. Dichter, die ihren Lesern durch ihre Gedichte und Geschichten auf diese Weise ein Gefühl für dieses Ganze vermitteln, sind in der Lage, Tröster und Lebensbegleiter zu sein.

Das Reisfeld als Transzendenz

Die unmittelbare, naiv-authentische Aussprache des Wortes „Gott”, das uns Heutigen im Alltag kaum noch gelingt, fasziniert bei Tagore. Ihm gelingt noch mehr: Er sa­kramentalisiert den Alltag, das heißt, er hebt unsere alltäglichen Handlungen und Gegenstände in eine symbolhafte Bedeutung, die er religiös deutet. Licht und Blume, Erde und Wolke, Reisfeld und Frühlingswind sind Signale einer Transzendenz. Die Beschreibung der Schönheit ist niemals Flucht in die Ästhetik, sondern Abglanz göttlicher Herrlichkeit. Notwendig ist, darauf hinzuweisen, dass Tagore auch das Zittern und Beben vor dem Unbegreiflichen, die Unsicherheit und Verzweiflung angesichts von Krankheit und Tod kannte und sie ebenso machtvoll gestaltete wie seine Freude und Geborgenheit im Göttlichen.

„Ich bin wie ein Punkt, du Innewohner, / ich bin in der Mitte der Welt. „Ich bin” – / dieser Worte eingedenk, wird mein Geist fiebrig / kraft ihrer Erhabenheit. Mein Herz verstummt / unter dem Gewicht dieses furchtbaren Rätsels.” Auch durch diese Jammertäler unserer Lebensreise dürfen wir ihm vertrauensvoll folgen, weil Tagore den ehrlichen Ernst über alles stellte – zu künden, was ihn im Innersten bewegte. Gerade darum wächst seine Lyrik über jede kulturelle und religiöse Einkleidung hinaus, und Rabindranath Tagore erscheint als der Weltdichter, der er gewesen ist.

Kurz vor seinem Tod schrieb und komponierte Tagore ein Lied, das noch einmal alle Elemente seiner Welt- und Gottesliebe zusammenfasste: „Mögen die Fesseln der Welt fallen / und die Arme des Kosmos unendlich sich breiten / über meine Seele, damit sie furchtlos erkenne / das Große Unbekannte.”

Literatur:
Rabindranath Tagore, „Das goldene Boot”. Lyrik, Prosa, Dramen. Hg. von Martin Kämpchen (Düsseldorf 2005)
Ders., „Gedichte und Lieder”. Aus dem Bengalischen von Martin Kämpchen (Berlin 2011)
Martin Kämpchen, „Rabindranath Tagore”. Monographie (Reinbek, 4. Aufl. 2011)
Außerdem ist soeben erschienen: Rabindranath Tagore, „Perlen der Lebensweisheit”. Aus dem Bengalischen übersetzt von Martin Kämpchen (Freiburg 2011)

Martin Kämpchen, Dr. phil., Schriftsteller und Publizist, übersetzt Tagore und Ramakrishna, engagiert im christlich-hinduistischen Dialog und in der Friedensarbeit, wohnt in Indien.
CIG 48/2011

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