Einstein-Forum, Potsdam
im Rahmen des Workshop zum Thema “Tagore und Einstein” am 8. Juli 2011
Rabindranath Tagore in Deutschland – eine literarische Entdeckungsreise
von Martin Kämpchen
In diesem Jahr ist das gesamte kulturelle Indien in Feierstimmung. Im Mai jährte sich der Geburtstag seines bedeutendsten Dichters, Rabindranath Tagore, zum 150. Mal. Jede Universität, jedes Literatur-Department, beinahe jedes College, und wenn es fern in der indischen Provinz liegt, die Literatur- und Kulturakademien, die Fernsehkanäle – sie alle sind in diesen Monaten mit dem Mann mit dem langen Haupthaar und dem wallenden Bart und den schönen, ruhigen Augen beschäftigt. An den breiten Zufahrtsstraßen zum Flughafen Kalkuttas wurden riesengroße Plakate mit der Zahl 150 und dem Abbild des Dichters aufgerichtet, als sei er plötzlich ein Bollywood-Star geworden. Jede Zeitschrift, die auf sich hält, veranstaltet Tagore-Sondernummern, die literarischen Gesellschaften bringen Tagore-Anthologien heraus. Alles und jeder schmückt sich dieses Jahr mit Tagore, auch Institutionen, die mit Kultur wenig zu tun haben, wie Stadtverwaltungen, Banken und Großfirmen. Wer wollte, konnte den Geburtstag übrigens gleich zweimal feiern – am 7. Mai nach dem gregorianischen Kalender und am 9. Mai nach dem bengalischen Kalender, das ist der 25. Tag im Monat baisākh.
Es ist fast, als habe Goethe einen großen, runden Geburtstag! Aber nein, es ist bombastischer, gewaltiger, larger-than-life. Denn Indien – ein Subkontinent – besitzt zwar viele bedeutende Kunstschaffende, doch eben nur diesen einen Nationaldichter, den bisher einzigen, dem die Würde eines Literaturnobelpreises verliehen wurde, den einzigen Dichter mit einer internationalen Ausstrahlung!
Diese Ausstrahlung war jedoch nicht naturgegeben, sie musste errungen werden. Als dem indischen Dichter Rabindranath Tagore am 14. November 1913 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, fragte jeder in Deutschland: Wer ist dieser Mann mit dem schier unaussprechlichen Namen? Die schwedische Akademie, die den Preis verliehen hatte, veröffentlichte einen Lebenslauf, der mehr märchenhaft als realistisch war und zu den orientalisierenden Phantasien der Europäer eher beitrug, anstatt sie abzubauen. Bis heute bleibt Tagore der Mann mit dem langen Bart und dem würdigen Antlitz, den die Kinder, als sie ihm in den 20er Jahren in Deutschland begegneten, voll bewunderndem Schrecken den „lieben Gott“ und „Gott Vater“ nannten. Seine Fama als „Mystiker“, „Prophet“ und „Weiser“, als „Maharaja“ lässt sich nicht ganz abschütteln. Obwohl inzwischen auch in Deutschland genug Möglichkeiten bestehen, von diesem verniedlichenden Tagore-Bild abzurücken und ihn als Dichter von Weltliteratur, als Pionier der Pädagogik, als modernen Maler und Religionsphilosophen kennenzulernen.
Wer war also Rabindranath Tagore?
Rabīndranāth Tagore wurde im Jahr 1861 in Kalkutta in eine kulturell kreative Großfamilie geboren und fand in ihr ideale Bedingungen, seine Talente zu entfalten. Im großen Innenhof des Familienhauses spielten die Verwandten Theater, der junge Rabi begann Gedichte zu schreiben, Lieder zu komponieren, Theaterstücke zu verfassen und sie als Regisseur, Schauspieler, Tänzer und Sänger auf die Bühne zu stellen. Sein universales Genie bildete sich früh heraus, doch die wesentliche Berufung erkannte er in der Lyrik und seinen Liedern. Rastlos, rettungslos romantisch im Wesen, verliebt in die Natur mit ihren sich wandelnden Jahreszeiten, verschmähte er eine formale Erziehung, reiste stattdessen viel und las und stürzte sich in die literarischen Diskurse seiner Zeit. Schon als junger Mann besuchte Tagore England. Dort trieb er sich lieber in fröhlicher Gesellschaft herum, als Vorlesungen zu besuchen. Und als er in seinen Briefen mit größerer Begeisterung über Frauenbekanntschaften als über sein Studium schrieb, rief ihn der sittenstrenge Vater zurück und gab ihm ein einfaches, aber praktisches Mädchen zur Ehefrau.
Mit dreißig galt Rabīndranāth als der bedeutendste Lyriker seiner Sprache, dem Bengalischen. Das raue Leben außerhalb seiner privilegierten Zirkel lernte er jedoch erst kennen, als ihn sein Vater, ein Großgrundbesitzer und Unternehmer mit breiten kulturellen und spirituellen Interessen, in den Norden Bengalens ans Ufer des Flusses Padmā schickte, um den Landbesitz der Familie zu verwalten. Rabīndranāth erlebte die Not der Pachtbauern, ihre kindliche Hilflosigkeit und tat zweierlei: Er gründete Genossenschaften und Banken, führte Formen der Selbstverwaltung ein; und er schuf die realistische bengalische Kurzgeschichte, in der er das Leben der Menschen in den Dörfern darstellte.
Als Rabīndranāth Tagore mit vierzig Jahren auf einen flachen Landstrich 150 Kilometer nördlich von Kalkutta übersiedelte, war wieder sein Pioniergeist am Werk. In dieser dörflichen Umgebung baute er eine Schule für seine Kinder und die einiger Freunde aus Kalkutta auf. Der Ort hieß Sāntiniketan, ›Ort des Friedens‹. Seine Idee war, die altindische āshram-Gemeinschaft als Modell für eine holistische Erziehung aufleben zu lassen. Unermüdlich schrieb Tagore Lieder, auch Musikdramen und Tanzspiele für seine Schülerinnen und Schüler. Denn er wollte, dass sie spielend und singend lernten und mehr im Buch der Natur lasen als Schulbücher durchpaukten.
Von Santiniketan aus wirkte er einige Jahre im politischen Kampf um nationale Identität und Unabhängigkeit an führender Stelle mit, bis ihm deutlich wurde, daß der politische Kampf seine Sache nicht war. Inmitten ständiger Reisen und Aktivitäten ergoss sich ein Strom von Lyrik – insgesamt erschienen rund sechzig Gedichtbände – von Romanen, Erzählungen, Essays, Dramen und Briefen; außerdem schrieb und komponierte er über zweitausend Lieder, von denen viele zum heutigen Volksliedgut der Bengalen gehören.
Die Anstrengungen erschöpften ihn. Krank zog sich Tagore einige Monate zurück und reiste auf Rat der Ärzte 1912 zur Erholung nach England. In dieser Zeit fand er keine Kraft zu originalen Werken; stattdessen übersetzte er einige Dutzend seiner bengalischen Gedichte in rhythmische englische Prosa. Flugs beförderte der irische Dichter William Butler Yeats diese Texte, mit einem bewundernden Vorwort versehen, unter dem Titel „Gitanjali“ zum Druck. Das war Ende 1912. Im Frühjahr 1913 war Tagore bereits in aller Munde, denn sein schmales Buch hatte in Kürze zehn Auflagen erlebt. Trotzdem war es eine Überraschung, als Rabīndranāth Tagore noch im selben Jahr 1913 für dieses eine Buch der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde.
Für Rabindranath Tagore wurde die Verleihung des Literatur-Nobelpreises ein wesentlicher Einschnitt. Tagore ist der erste Nobelpreisträger der nicht-westlichen Welt. Viele Länder in Asien, Afrika und Südamerika waren damals im Griff europäischer Kolonisatoren, die sie nicht nur politisch knechteten, sondern auch kulturell demütigten. Darum wertete der Nobelpreis die Kultur, vor allem die Literatur Indiens auf, aber auch die Kultur aller Länder der sogenannten „Dritten Welt“. Darum konnte es geschehen, daß sich Tagore als Stimme Indiens, als Stimme Asiens und der unterdrückten Völker empfand. In ihrem Namen unternahm er neun große Weltreisen, auf denen er den Dichtern und Gelehrten, aber auch den Politikern der Gastländer begegnete. Er setzte sich für Völkerverständigung ein, für die Verständigung vor allem zwischen „Ost“ und „West“, zwischen den Kulturen und den Religionen. Er sprach sich gegen die Nationalismen jeder Couleur aus, auch gegen den Zionismus, und befürwortete eine Annäherung von Kolonialmächten und kolonisierten Völkern auf der Basis einer humanistischen Gemeinsamkeit.
In seiner Lyrik erneuerte sich Tagore bis hin zu seinen letzten Gedichten immer wieder. Die lyrisch-liedhaften Gedichte wandelten sich zu komplexen Hymnen, zu dramatischen Balladen und mündeten in den letzten Lebensjahren in existentiell fragende, wortkarge Gedichte, die auf Reim und Vers verzichtend die Alltagssprache vorzogen. Liebes-, Natur- und religiöse Lyrik durchziehen sein Werk wie kräftige Silberfäden ein Tuch. Aber auch Ironie, Humor, kindliche Lyrik und Nonsens-Verse entstanden aus seiner Feder. Seine religiöse Lyrik wendet sich gegen die asketische, weltverneinende Tradition des Hinduismus. Stattdessen sucht Tagore eine welt- und sinnenbejahende Spiritualität – eine Idee, die ihn ein Leben lang umtrieb und zu zahlreichen Gedichten inspirierte.
Im Entsagen Freiheit zu finden,
ist mir nicht vorbestimmt.
In zahllosen Banden verstrickt, kost ich
der Freiheit unsäglich Entzücken. (naibedya 30)
Tagores letzte Lebensjahre waren gekennzeichnet von Krankheit, Erschöpfung und Enttäuschung. Die heraufziehenden dunklen Kriegswolken deprimierten ihn so tief, daß er zu einer schweren Verurteilung der westlichen Kultur ausholte. Noch vor Kriegsende, mit achtzig Jahren, starb Rabindranath Tagore im August 1941 in Kalkutta.
Tagore und das literarische Deutschland
Kehren wir zum Jahr 1913 zurück. Der Nobelpreis veränderte Tagores zurückgezogenes Leben auf dem Lande drastisch. Plötzlich war er eine internationale Berühmtheit geworden, die herumgereicht und bejubelt wurde. Er reiste durch Japan und China, fuhr bald nach dem Ersten Weltkrieg nach Amerika und Europa, besuchte Südamerika, Ägypten, später den Iran und Irak. Mussolinis Italien und die Sowjetunion luden ihn ein. Er traf Gelehrte und Dichter, Politiker und hielt überall Lesungen seiner Lyrik und Vorträge. Deutschland bereiste er dreimal mit überwältigendem Erfolg (1921, 1926 und 1930), Österreich zweimal (1921, 1926).
In deutscher Sprache wurde Tagore von Anfang im Kurt Wolff Verlag herausgebracht, der zunächst in Leipzig, dann in München beheimatet war.
Die Annahme des Gitanjali-Manuskripts durch den Kurt Wolff Verlag, der damals am Anfang stand, ist legendenumwoben. Kurt Wolff behauptete in Briefen an Franz Werfel und Walter Hasenclever, er habe Rabīndranāth Tagores englisches Buch vor dem Bekanntwerden des Nobelpreises für seinen Verlag angenommen. Im Jahr 1962 schließlich, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Kurt Wolff einen 20-seitigen Radio-Essay über Rabīndranāth Tagore, in dem er die Ereignisse um Tagore Revue passieren lässt. In diesem bislang ungedruckten Text heißt es:
Wer mich in diesem Sommer darauf aufmerksam machte, dass in London Verse eines indischen Dichter namens Rabindranath Tagore erschienen seien, die einen eigenen, aber auch in andere Sprachen zu übermittelnden Ton hätten, vermag ich nicht mehr mit Sicherheit zu erinnern. Möglich, ja wahrscheinlich, dass es Franz Blei war, der immer und überall herumschnuppernde Windhund mit der guten Nase. […]
Nun, man konnte jedenfalls einmal nach dem Buch und den deutschen Übersetzungsrechten fragen. Das Buch hiess GITANJALI. Es kam und mit ihm der Bescheid, dass noch kein anderer deutscher Verlag danach gefragt habe. Und wie das leider oft bei den bösen Verlegern vorkommt: das Buch lag wochenlang herum, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Hier darf die traurige Tatsache nicht verschwiegen werden, dass der Verleger, ich also, 26 Jahre alt damals, Englisch weder zu sprechen noch zu lesen vermochte – das hatte mir mein humanistisches Gymnasium nicht beigebracht. GITANJALI ging also zu Lektoren, und wie üblich, war, was sie zu sagen hatten, so widerspruchsvoll, dass die gutachtlichen Äusserungen einander aufhoben.
[…] Nach kurzer Unentschiedenheit entschloss ich mich zur Verlagsübernahme – nicht zuletzt, weil Übereinstimmung darüber herrschte, dass keine durch Reim oder komplizierte Formen verursachten Übersetzungsprobleme entstehen könnten.
Die positive Entscheidung fand eine Bestätigung völlig unerwarteter Art: der Nobelpreis 1913 für Literatur wurde Rabindranath Tagore verliehen noch bevor das Buch deutsch erschienen war.[1]
Die Übersetzerin von „Gitanjali“ war keine geringere als Marie-Louise Gothein, Mutter von Percy Gothein, einem Mitglied des Kreises um Stefan George. Sie erhob Einspruch gegen einige Änderungen im Übersetzungsmanuskript. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, bei der sich Frau Gothein vom besten Anwalt in Sachen Übersetzungsrecht in Leipzig vertreten lassen wollte. Der Zufall wollte es jedoch, dass sie an einen Anwalt gleichen Namens geriet, der von Übersetzungen keine Ahnung hatte. Gothein verlor das Verfahren. Die Angelegenheit schlug so hohe Wellen, daß es in Bonn sogar zu einem Duell kam. Bald wurde jedoch ein Vergleich zwischen Frau Gothein und dem Kurt Wolff Verlag ausgehandelt.
Doch zur Geschichte, wie das Gitanjali-Manuskript angenommen wurde, gibt es eine Version, die derjenigen Kurt Wolffs widerspricht. Der Prager Schriftsteller und Feuilletonist Willy Haas, ein Mitarbeiter Wolffs, erinnerte sich acht Jahre nach Kurt Wolffs Tod (1971) in der Zeitung Die Welt:
Ich war selbst dabei, als der erste ›Bestseller‹ in Deutschland enthüllt wurde. […] Es war das Buch eines uns bis dahin völlig unbekannten Dichters, Rabindranath Tagore. Sein Name stand in einer Abendzeitung, denn ihm war soeben der Nobelpreis für Literatur verliehen worden.
›Von diesem Mann ist uns doch ein Gedichtband angeboten worden‹, sagte der bekannte Verleger Kurt Wolff, der im Empfangszimmer des Verlages stand und eben die Zeitung gelesen hatte. ›Wo ist das Manuskript? Her damit!‹
Man suchte und suchte, aber es war nicht zu finden. Schließlich stellte sich heraus: Das Manuskript des Nobelpreisträgers war von einem Hauptlektor des Verlages gelesen und abgelehnt worden. Es war vor einer Stunde mit der letzten Post abgegangen.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, setzte sich Kurt Wolff in seinen Wagen und fuhr zum Hauptpostamt. Er blieb eine reichliche Stunde weg. Aber dann kam er mit dem Manuskript unterm Arm zurück. Es war ihm tatsächlich gelungen, die riesigen Haufen der abendlichen Post unter der Aufsicht des Oberpostdirektors durchsehen zu lassen, und das Manuskript zurückzubekommen. Das war wahrscheinlich nur deshalb möglich, weil er den Direktor persönlich kannte.
Alle, die im Zimmer waren, standen gespannt herum, als das Manuskript ausgepackt wurde. Man las ein paar Seiten, und der Lektor, der es zurückgesandt hatte, wurde belobigt. Es war in der Tat eine recht schwache Sache. Aber Kurt Wolff, der ein Hans im Glück war, kannte natürlich auch die Übersetzerin. Er telefonierte ihr, daß ihr Manuskript angenommen sei, aber überarbeitet werden müsse, und klärte wohl auch gleich die Honorarfrage. […] Die Übersetzung wurde schnell überarbeitet, und das Buch wurde mit einem für jene Zeit ungeheuren Reklameaufwand auf den Markt gebracht.[2]
Die deutsche Gitanjali-Ausgabe erreichte bis 1922 eine Auflage von 67 Tausend. Aber war Haas tatsächlich »selbst dabei«? Laut Wolfram Göbel kam Haas erst im »Frühjahr 1914« als Lektor zum Verlag[3], während wir hier von Ereignissen sprechen, die im November 1913 vorgefallen sein sollen.
Ist Willy Haas’ Version also eine gute Erfindung? Sie ist zumindest nicht Haas’ Erfindung, denn sie war schon viel früher im Umlauf. Nach Seiffhart, einem Mitarbeit im Verlag, stammt sie von dem Künstler und Humoristen Hans Reimann, der beim Kurt Wolff Verlag angestellt war.[4]
Parallel dazu gab es eine andere Entwicklung. Rainer Maria Rilke hatte Kurt Wolff aus Paris geschrieben, welchen großen Eindruck André Gides Übersetzung des „Gitanjali“ auf ihn gemacht hatte. Kurt Wolff kam dadurch auf die Idee zu fragen, ob Rilke selbst nicht eine Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche wagen wolle. Rilke lehnte nach gründlicher Überlegung ab und schrieb Kurt Wolff einen Brief:
Lieber Herr Kurt Wolff, –
[…] ich entdecke zu der angeregten Aufgabe in mir nicht jene unwiderlegliche Berufung, aus der allein die endgültige, durchaus verantwortliche Leistung hervorgehen könnte. Zwar kommt mir manches aus diesen Strophen sehr nahe, aber es wird mir, sozusagen, von einer Woge von Fremdheit zugetragen, deren Bewegung ich kaum wiederzugeben verstünde, ohne mir irgendwie Zwang anzuthun. Das mag zum Theil in dem geringen Verhältnis begründet sein, das ich zur englischen Sprache empfinde; ich entfremde ihr so rasch, daß ich mich immer wieder ohne vielfachen Beistand in ihr nicht zurechtfinden kann. […][5]
Damit zerschlug sich die Hoffnung, auch in deutscher Sprache einen bedeutenden Dichter als Förderer oder Übersetzer von Tagores Buch zu gewinnen. In England war es William Butler Yeats, in Frankreich André Gide, in Spanien Juan Ramón Jiménez und in Russland Boris Pasternak, die sich etwa zur gleichen Zeit für Tagores lyrische Prosa einsetzten.
Doch auch ohne Rilkes Übersetzungskunst wurde Tagore ein Erfolg für Kurt Wolff. Er ließ sämtliche Werke, die auf Englisch von Tagore oder seinen Gefährten übersetzt wurden, unverzüglich ins Deutsche übertragen, so daß zwischen 1914 und 1925 nicht weniger als 25 Bücher erschienen, ebenso eine achtbändige Ausgabe von Gesammelten Werken, die erste Werkausgabe außerhalb von Bengalen. Nach Verlagsauskunft brachte es Tagore im deutschen Sprachraum auf eine Gesamtauflage von über einer Million.
Als Rabīndranāth Tagore im Jahr 1921, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, in die deutsche Öffentlichkeit trat, war das kulturell-geistige Deutschland in einer Krise. Tagore wurde als „Messias“ empfunden, der das deutsche Volk trösten und aufrichten wollte. Tagore selbst bekräftigte häufig die besondere Affinität der deutschen Kultur mit der indischen, womit er auch sein tiefes Mitgefühl für das geschlagene und gedemütigte deutsche Volk erklärte. Damit hatte auch sein enormer Erfolg zu tun. Dieser Erfolg beruhte jedoch im Wesentlichen auf die Wirkung von Tagores von Persönlichkeit und weniger auf seinen Werken, die zweifach übersetzt – vom Bengalischen ins Englische und vom Englischen ins Deutsche – ernsthafter literarischer Prüfung nicht immer standhielten.
Der indische Dichter ließ sich von dem baltischen Philosophen Hermann Keyserling zu einer „Tagore-Woche“ im erzherzöglichen Palais in Darmstadt bewegen, zu der auch Persönlichkeiten wie Martin Buber, Paul Natorp und Rudolf Otto erschienen; alle drei haben danach mehrfach über ihre Begegnungen mit Tagore geschrieben. Tagore traf außerdem Stefan Zweig in Salzburg, Thomas Mann in München und mehrmals Albert Einstein in Berlin. Der Teenager Bertolt Brecht schrieb eine verehrende Kritik über Tagores Buch „Der Gärtner“, Hermann Hesse veröffentlichte drei Buchbesprechungen, der bedeutende Indologe Heinrich Zimmer, Schwiegersohn Hugo von Hofmannsthals, schrieb Aufsätze über ein Theaterstück Tagores, Albert Schweitzer widmete Tagore ein ganzes Kapitel in seinem Buch „Die Weltanschauung der indischen Denker“. Mit anderen Worten, man kann behaupten, daß Tagores einmonatiger Besuch 1921 in Deutschland kulturelle und literarische Spuren hinterlassen hat und nicht nur das allgemeine Lesepublikum zu einer momentanen und oberflächlichen Begeisterung veranlaßte.
Von besonderem anekdotischem Interesse ist noch Thomas Manns Begegnung mit Tagore. Er hatte die Einladung Hermann Keyserlings zur „Tagore-Woche“ in Darmstadt abgelehnt. Dies begründete er in einem Brief an Keyserling mit dem recht indifferenten Eindruck, den Tagores Gedichte und Gestalt auf ihn gemacht habe; er schrieb:
Ich kenne einzelne, sehr seelenvolle Gedichte von ihm, die aber, da ich sie auf deutsch las, wie alle übersetzte Lyrik, doch keine recht unmittelbare Wirkung auf mich ausübten. Das Bild, das ich mir immer von ihm machte, ist malerisch, aber blaß, und gewiß that ich unrecht, von dieser subjektiven Blässe seines Bildes auf eine objektiv vorhandene zu schließen und mir den Mann und Dichter allzu pazifistisch-indisch vorzustellen, beseelt von einer etwas anämischen Humanität und prinzipiellen Milde…[6]
Als Tagore Gast von Kurt Wolff in München war, konnte Thomas Mann nicht umhin, den Vortrag an der Universität und den Empfang in Wolffs Villa zu besuchen. Wie Mann auf Tagore reagierte, entbehrt nicht der Komik: »Fuhr um 11 mit K. zu Kurt Wolf zum Vortrag des R. Tagore. Ausgewählte Gesellschaft. Der Eindruck einer feinen alten englischen Dame verstärkte sich. Sein Sohn, braun und muskulös, maskuliner Typus. Ich wurde vorgestellt, sagte: It was so beautiful und schob K.[atja] vor ›my wife, who speaks english better than I.‹ Er hat meine Identität wohl nicht aufgefaßt.« [7] Mann hatte also seine Frau Katja vorgeschoben und sie die Konversation machen lassen, damit er mit dem »Indier« nichts zu tun haben brauchte. Der Weise aus dem Morgenland hatte den deutschen Großdichter nicht einmal erkannt! Nur zu verständlich, dass der Ironiker Thomas Mann zu Tagores romantischen Prosa-Übersetzungen kein Verhältnis entwickelte. Thomas Mann übrigens war einer der wenigen, der Tagores lyrische Prosa problematisierte, weil sie Übersetzungen waren, der also die Crux von Tagores literarischem Ruhm ahnte.
Dieser Ruhm verblasste, als die Nazizeit begann, während der er totgeschwiegen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten seine alten Bücher im Hyperion-Verlag (Freiburg) zwar neu aufgelegt werden, doch die Popularität der 1920er Jahre war ein für allemal vorbei.
Tagore in Berlin
Rabindranath hat bei allen drei Deutschland-Besuchen Berlin besucht, also im Jahr 1921, 1926 und 1930. Im Jahr 1926 war er sogar zweimal und im Jahr 1930 dreimal in Berlin. Deutschlands Hauptstadt war jener Ort, den er für seine Vorträge und Begegnungen bei weitem bevorzugte. Berlin benutzte er auch als eine Drehscheibe, es war also jener Ort, von dem er in andere Teile Europas weiterfuhr – nach Prag, nach Skandinavien und Moskau – oder zu dem er zurückkehrte – von Skandinavien, von England und von Moskau. Im Jahr 1921 feierte Tagore in Berlin seine größten Erfolge, als er am 2. Juni seinen Vortrag über The Message of the Forest an der Universität wiederholen musste, denn die vielen Menschen, die keinen Platz im Saal fanden, mussten mit dem Versprechen einer Wiederholung am folgenden Tag beruhigt werden. Dies war ein Vortrag, den er an vielen Orten hielt, und Tagores Vision einer „Welt-Universität“ beschrieb, an der Vertreter verschiedener Kulturen einander ihre eigene Kultur nahebrachten. Am Ende desselben Jahres, 1921, gründete Tagore die Universität Visva-Bharati in Santiniketan.
Der bekannte Indologe Helmuth von Glasenapp, damals ein junger Lektor, wurde vom Kulturministerium zu Tagores Begleiter in Berlin bestellt. In seinen Erinnerungen beschreibt Glasenapp den Dichter als bescheiden und gutherzig. Der Dichter habe, so erinnert sich Glasenapp, seinen besonderen Respekt für das deutsche Volk bekundet, weil es in Indien nicht dessen Reichtümer gesucht habe, sondern dessen geistigen Werte.
In Berlin verbrachte Tagore viele Stunden mit dem Empfang von Besuchern. Seine deutsche Übersetzerin, Helene Meyer-Franck, und ihr Mann waren von Hamburg gekommen, um wie Privatsekretäre den Besucherstrom zu regulieren. Es gab auch kauzige Besucher – zum Beispiel eine Frau, die weder Englisch noch Bengalisch sprach und hoffte, mit dem Dichter telepathisch zu kommunizieren.
In Berlin besuchte Tagore auch ein Konzert, das von dem Finanzmann Fritz Andreae organisiert worden war. Dessen Frau Ediths Andreae war eine im Kulturleben wohlbekannte Dame, die einen literarischen Salon betrieb. Edith älterer Bruder war Walter Rathenau, der damalige Außenminister der Weimarer Republik, der ein Jahr später, 1922, ermordet wurde. In Berlin Grunewald hörte Tagore klassische deutsche Musik zum ersten Mal. Ein Bericht meldet: Zuerst war er überrascht, dann von der Musik gebannt und zutiefst gerührt. Diese Reaktion ist bedeutsam im Hinblick auf Tagores Gespräch mit Albert Einstein über Musik zur selben Zeit in Berlin. Edith Andreae unterhielt eine längere Korrespondenz mit Tagore, die noch unveröffentlicht ist.
Im Jahr 1930 erhält der Berlin-Besuch Tagores noch einmal besondere Bedeutung, weil er dort am 16. Juli in der Gallerie Möller seine eigenen Gemälde ausstellte – zum ersten Mal in Deutschland. Danach wanderte die Ausstellung weiter nach Dresden und München.
Übersetzung ins Deutsche
Das bringt mich zum letzten Thema, dem der Übersetzung ins Deutsche. Thomas Mann, so hörten wir, problematisierte den Vorgang des Übersetzens von Lyrik. Andere waren zur damaligen Zeit noch nicht zu der Erkenntnis gekommen, daß hier ein Dichter sich selbst in eine fremde Sprache übersetzte, ein seltener Prozess, der leicht zum Scheitern führt. Im späteren Leben bedauerte es Tagore, etwa in seinem Briefen an den britischen Freund William Rothenstein, daß er die Weltbühne mit Texten in Englisch betreten hatte, die seinen Originalwerken nicht ebenbürtig waren.
In Deutschland hatte dies zur Folge, daß Tagore weniger als Lyriker und Dichter angesehen wurde, sondern mehr als Philosoph und Pädagoge, sowie daß eher seine Persönlichkeit als seine Werke beeindruckten. Doch da Tagore selbst seine Werke ins Englische übersetzt hatte, hielt man sie auch jahrzehntelang nach seinem Tod noch für authentisch.
In Deutschland war Tagore die Stimme des „mystischen Ostens“, der sich dem Mystik- und Mysterien-suchenden Westen zuwendet. Er wurde in die Tradition der deutschen Indologie eingeordnet, die im frühen 19. Jahrhundert, gleichzeitig mit der deutschen Romantik, begann. Die deutsche Romantik hatte Indien als Land der Philosophie und Weisheit entdeckt. Daher sah das deutsche Publikum des frühen 20. Jahrhunderts in Rabindranath einen Vertreter der Philosophie und Weisheit Indiens – nicht so sehr eine literarische Figur.
Nur eine Person hielt es, noch zu Lebzeiten des Dichters, der Mühe wert, Bengalisch zu lernen, um Tagore im Original zu verstehen und zu übersetzen: Helene Meyer-Franck. Sie übersetzte zunächst Tagores Werke aus dem Englischen ins Deutsche. Doch als ab 1925 Kurt Wolff keine Bücher mehr zur Übersetzung anbot, weil Inflation und Währungsreform das Verlegen von Büchern beinahe unmöglich gemacht hatten, lernten Helene Meyer-Franck und ihr Ehemann Heinrich Meyer-Benfey, ein gelehrter Hamburger Germanistik-Dozent, Bengalisch. Helene Meyer-Franck gab nicht auf und konnte zwei schmale Bücher veröffentlichen: eine Übersetzung von drei Erzählungen im Jahr 1930, und nach dem Krieg, im Jahr 1946, eine Sammlung von übersetzter Lyrik aus „Gitanjali“ und anderen Bänden, „Mit meinen Liedern hab ich dich gesucht“[8].
Helene Meyer-Franck und ihr Mann führten zudem eine Korrespondenz mit dem indischen Dichter, die 18 Jahre währte. Sie ist die längste und interessanteste Korrespondenz, die Tagore, der ewige Briefeschreiber, mit Deutschen führte. Diese Briefe berichten ausführlich von Tagores Besuchen in Deutschland und den Umständen von Tagores Rezeption in Deutschland. Diese Korrespondenz ist soeben, zum Tagore-Jubiläum, unter dem Titel „Mein lieber Meister“ in deutscher Übersetzung erschienen.
Der ostdeutsche Verlag Volk und Welt war früh zu der Einsicht gekommen, daß als nächsten notwendigen Schritt Übersetzungen aus dem Bengalischen wichtig waren. Die DDR hatte ein besonderes Interesse an Tagore, weil er sich mit seinem typischen Idealismus für das Verständnis zwischen Nationen, Völkern und Religionen einsetzte. Das kam der Ideologie einer – kommunistischen – Völkerverständigung entgegen.
Jedoch waren die in Ostdeutschland verlegten Bücher noch nicht so ausgewogen editiert und philologisch reif, wie sie hätten sein können.[9] Es dauerte weitere zwei bis drei Jahrzehnte, bis philologisch genaue und dichterisch relevante direkte Übersetzungen erschienen. In England setzte William Radices Buch „Selected Poems of Rabindranath Tagore“, das 1985 erschien, als erster ein klares Signal für solche anspruchsvollen Übersetzungen.
In Deutschland hat Alokeranjan Dasgupta mit Lothar Lutze, seinem ehemaligen Professorenkollegen an der Universität Heidelberg, 1987 einen schmalen Band mit Übersetzungen aus dem Bengalischen von späten Gedichten Rabindranaths herausgegeben. Meine eigenen Bemühungen folgen dem Beispiel von William Radice, dessen Übersetzungen mich inspirierten und die mir als Modell dienten, obwohl meine Auswahl sich merklich von seiner unterscheidet. Radice scheut sich nicht, jedes von ihm übersetzte Gedicht mit zahlreichen Anmerkungen zu versehen. Jedes Gedicht wird kurz vorgestellt, dann folgt ein Zeilenkommentar, der, wo nötig, die Bedeutung erklärt und die Schwierigkeiten bei der Übersetzung erläutert.
Meine ersten drei Bände von Übersetzungen habe ich in katholischen Verlagen herausgebracht, die offenbar weiterhin von dem Mystiker-Image Tagores zehren wollten. Danach gelang es mir, einen Band mit „Liebesgedichten“ als Taschenbuch im Insel-Verlag herauszubringen, also in einem traditionsreichen Literatur-Verlag. Im Jahr 2005 endlich erschien ein 670-Seiten starker Band mit einer Auswahl aus Tagores Gesamtwerk: Lyrik, zwei Theaterstücke, Erzählungen und ein Kurzroman, Essays aus dem Bengalischen und aus dem Englischen, Briefe und Gespräche. Er erschien unter dem Titel „Das goldene Boot“ im Verlag Artemis & Winkler in der Reihe „Winkler Weltliteratur“. Zum 150. Geburtstag veröffentlichte soeben der Insel Verlag meinen Band mit neuen Übersetzungen aus dem Bengalischen: „Gedichte und Lieder“. Endlich ist, so scheint mir, Rabindranath Tagore bei uns in der richtigen Gesellschaft – in der Weltliteratur und in Weltliteratur-Verlagen – angekommen.
[1] Kurt Wolff, Rabindranath Tagore, (masch.) (Privatarchiv Wolfram Göbel, Berlin), S. 1 f.
[2]Caliban [= Willy Haas], Lesehilfen für notorisch faule Leser. In: Die Welt 27.12.1971
[3] Wolfram Göbel, Der Kurt Wolff Verlag 1913–1930, Expressionismus als verlegerische Aufgabe, Frankfurt a. M. 1977, Sp. 613
[4] Vgl. Arthur Seiffhart, Inter Folia Fructus. Aus den Erinnerungen eines Verlegers, Berlin 1948, S. 39.
[5] Kurt Wolff, Briefwechsel eines Verlegers 1911–1963, hrsg. von Bernhard Zeller und Ellen Otten, Frankfurt a.M. 1966, S. 138f.
[6] Thomas Mann, Briefe 1889–1936, hrsg. von Erika Mann, Frankfurt a.M. /Main 1961, S. 188 f.
[7] Ebd., S. 529 f., Eintrag vom 8.6.1921.
[8] Deutscher Literatur-Verlag Otto Melchert, Hamburg 1946.
[9] Der Verlag brachte eine vierbändige Ausgabe Rabindranath Tagore Ausgewählte Werke mit zwei Romanen, einigen Novellen und Kurzgeschichten heraus. Während Gisela Leiste den Roman Gorā aus dem Bengalischen übersetzte (wobei sie die russische Übersetzung heranzog), wurde der Roman „Sankörnchen im Auge“, Cokher Bāli, nach der englischen Version „Eyesore“ übersetzt. Einige Novellen wurden gemeinsam von einem Deutschen und einem Bengalen aus dem Original übersetzt. Dieselbe Konstellation befindet sich in dem Band mit Kurzgeschichten. Offenbar sprach der Bengale wenig Deutsch und der Deutsche wenig oder kein Bengalisch. Es war, als ob der Lahme den Blinden führte. In einer Anthologie mit dem Namen „Kabuliwallah, O Kabuliwallah“[9] wurde unbeabsichtigt das gleiche Gedicht zweimal übersetzt – einmal aus dem bengalischen Original Sisu und ein weiteres Mal aus Tagores englischer Übersetzung „The Crescent Moon“.