Chancen und Probleme der kulturellen Berichterstattung aus Indien. Eine Bilanz (“Meine Welt”)

[[Vortrag gehalten am 18.Juni 2009 im Indien-Institut München, veröffentlicht in "Meine Welt" 2009]

Chancen und Probleme der kulturellen Berichterstattung aus Indien

Eine Bilanz

von Martin Kämpchen

Indien ist nach China das bevölkerungsreichste Land. Seine geographische Ausdehnung ist enorm – man spricht von einem „Subkontinent“. Seine Zivilisation ist eine der ältesten und höchststehenden. Auch heute noch verfügt Indien über eine kulturelle Vielfalt, die wohl sämtliche anderen Länder übertrifft. Dennoch kommt Indien als Kulturland in den bedeutenden Diskursen Deutschlands nicht vor. Nicht wie etwa die USA, wie Russland, wie China, wie Japan. Die meinungsprägenden Persönlichkeiten an den Universitäten, in den Medien und in den Künsten kennen Indien selten und beziehen das Land nicht in ihre Gedanken und schöpferischen Prozesse ein. Wie ist das möglich, obwohl die Globalisierungstendenzen der Öffentlichkeit wie nie zuvor die Möglichkeit geben, Indien als Besucher kennenzulernen oder das Land medial zu erfahren?

Zunächst zwei kurze Antworten darauf, die ich als Thesen formuliere: Erstens, gerade wegen seiner Vielfalt zieht Indien nur eine Minderheit an; denn diese Vielfalt verwirrt und verlangt besondere intellektuelle und seelische Bemühungen der inneren Aneignung, die nur wenige aufzubringen bereit sind. Zweitens, Indien ist immer noch als „armes“ Land bekannt, als „Entwicklungsland“, bestenfalls als „Schwellenland“; darum nimmt man Indien als Kulturland instinktiv nicht so ernst wie etwa Japan und China. Volkskultur mag es geben, bestimmt dieses allgemeine irrationale Vorurteil, doch nicht Hochkultur. Denn Hochkultur, meint man, ist nur möglich in einem wirtschaftlich erfolgreichen Land.

Eine weitere, dritte, eher komplexe und spekulative Antwort, die ich hier zur Diskussion stelle, lautet: Die indische Kultur verfügt über besonders tiefe emotionale und irrationale Kräfte, die – wer nicht mit ihnen aufgewachsen ist – einen von außen Teilhabenden erschrecken und sogar abschrecken können. Die Deutschen, heißt es, hätten eine besondere Affinität zur indischen Kultur eben wegen dieser irrational-emotionalen Grundverfassung, die sie mit Indien teilten. Aber eine nachaufklärerische Kultur wie die unsrige sieht Gefahren in einer von der Rationalität wenig gesteuerten Emotionalität. Mit anderen Worten, in unserer gegenwärtigen deutschen Kultur, die stolz ist auf ihre verschiedenen Wellen der Aufklärung und des Rationalismus, gibt es nicht genügend Raum für kulturelle Affinitäten, die den deutschen Idealismus und die deutsche Romantik zum Ziel haben.

Trotz der technischen Möglichkeit, zahlreiche kulturelle Informationen und kulturelle Inhalte aus Indien medial in Deutschland anzubieten, bleibt Indien kulturell weitgehend ein fremdes Land. Dafür ist nicht nur die Schwierigkeit verantwortlich, indische Kultur zu verstehen und zu schätzen, sondern auch ein deutlicher Eurozentrismus. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Radio ist dieser Eurozentrismus weniger vertreten, als in den großen deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen. In Bild und Ton lässt sich das Fremde Indiens den Zuschauern und Hörern leichter vermitteln als im gedruckten Wort. Bild und Ton haben ihre starken emotionalen Seiten und können zum Teil auf diskursive Gedankengänge verzichten. Bild und Ton können sich legitim und durchaus verantwortungsbewusst auf impressionistische Stimmungsbilder beschränken. Auf diese Weise gelingt eine spontane Beziehung zum angebotenen indischen Inhalt, ohne ihn wirklich in seinen sozialen, kulturellen und religiösen Kontexten verstehen zu müssen.

 

Indien im Radio

Ich habe seit Beginn der 80er Jahre fast fünfzehn Jahre lang Dutzende von Sendungen für die öffentlich-rechtlichen Radioanstalten der ARD über Indien geschrieben. Es war die Zeit, als längere essayistische Sendungen von 30 bis 60 Minuten noch allgemein erwünscht waren. Mit „essayistischen Sendungen“ meine ich reine Wortsendungen, in denen der Text dramaturgisch geschickt auf drei oder vier Sprecher verteilt wurde. Musik oder andere Geräuschdokumente waren erwünscht, doch nur als Akzente zur Auflockerung und Betonung des Textes. Es ist bezeichnend, daß die Mehrzahl der Sendungen im Kirchenfunk der ARD-Sender ausgestrahlt wurden, nicht in anderen kulturellen Programmen. Die Kirchen sehen sich von ihrem Eigenverständnis her dazu verpflichtet, die Weltkirche in den Blick zu nehmen, bedeutend mehr als sich die Kulturredaktionen dazu gedrängt fühlen, die Weltkulturen darzustellen. So sind Sendungen entstanden über die Gottesliebe im Hinduismus, über die Göttin Kali, über Rabindranath Tagore, über meine soziale Arbeit in dem Stammesdorf Ghosaldanga, über Mahatma Gandhi und die Gewaltlosigkeit, über Ramakrishna, über Hindu-Fundamentalismus, über das Heilige im indischen Alltag, über den Dialog zwischen Hindus und Christen und zahlreiche ähnliche Themen, die meist in mehreren Rundfunkanstalten nacheinander ausgestrahlt wurden. Obwohl im weiten Sinne religiöse Themen behandelt wurden, waren sie durchaus repräsentativ für das heutige Indien, denn die indische Gesellschaft lebt weiterhin deutlich aus einem religiösen Selbstverständnis. Dennoch blieben gewisse Bereiche der Kultur notwendig ausgespart: die bildende Kunst, die Musik, die sozialen Zustände, die Politik, die Geschichte… Zudem verlangt das Radio-Essay einen eigenen, nämlich hörerfreundlichen Stil, der vor allem in der Fähigkeit zur Vereinfachung liegt. Komplexe, gedanklich schwierige Zusammenhänge, oder lange Gedankenbögen verbieten sich. Der Erfolg des Radioautors liegt in dem Vermögen, die Mitte zwischen Einfachheit und Genauigkeit zu bewahren.

Mitte der 90er Jahre habe ich begonnen, für das Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu schreiben. Dies war auch die Zeit eines Umdenkens in den ARD-Redaktionen. Man wollte sogenannte „radiogerechte“ Sendungen produzieren. Das führte zu einer „Ver-Feature-ung“ der langen Wortsendungen. Plötzlich wollte man Interviews, Gespräche, atmosphärische Geräusche, historische Tondokumente und unterlegte Musik einbauen. Die Themen wurden beinahe wie Hörspiele aufbereitet. Das führte zu einer weiteren Vereinfachung komplexer Zusammenhänge. Das hatte zur Folge, daß nur der im Radio akzeptiert wurde, wer mit einem Tonband arbeitete und am besten seine Sendungen selbst schnitt. So kam das Interesse der FAZ an mir zur rechten Zeit. Denn ich fühlte mich als Autor, nicht als Radiomacher.

 

Indische Kultur im Feuilleton der FAZ

Der damalige außenpolitische Redakteur der FAZ, Klaus Natorp, hatte eines meiner frühen Bücher, ein indisches Tagebuch, gelesen und schickte den politischen Korrespondenten mit Sitz in Neu-Delhi zu mir nach Santiniketan für ein Gespräch. Daraus entstand der erste Kontakt mit der Redaktion der Zeitung. Einige Monate später traf ich Herrn Natorp in der Redaktion in Frankfurt, auch dies auf dessen Einladung. Bei diesem Gespräch schlug ich vor, für das Feuilleton über Indien zu schreiben. Herr Natorp bewertete das Interesse für indische Kultur unter den Lesern als sehr gering. Ich solle mir keine großen Hoffnungen machen, warnte er mich. Mir war klar, daß man den Begriff „indische Kultur“ allgemein mit Yoga, Sitarmusik, Esoterik, Hippietrips, phantastischen religiösen Phänomenen wie heilige Kühe assoziierte. Für eine seriöse Tageszeitung kam diese Art von Exotik natürlich nicht in Frage. Man hatte keine Vorstellung davon, was das Feuilleton über Indien drucken könnte.

Trotzdem vermittelte Klaus Natorp meinen Namen empfehlend an die Literaturredaktion. Nach einigen Wochen erreichte mich ein Buch über indische Philosophie mit der Bitte um eine knappe Besprechung. Sie erschien. Den nächsten Beitrag schickte ich ungefragt, damals noch per Post. Es war ein Beitrag über Rabindranath Tagore. Auch er erschien. Auf diese Weise entwickelte sich nach und nach eine Zusammenarbeit. Ich glaube, die Redakteure in der Literaturredaktion entdeckten mit einem milden Erstaunen, daß es tatsächlich Themen aus dem indischen Kulturleben gab, die seriös und allgemeinverständlich sind. Wohlgemerkt, es gab keine Indienreisenden unter ihnen, keine durch ihr Studium an Indien speziell Interessierte. Es zeichnet die Journalisten eines bedeutenden Blattes aus, daß sie lernfähig sind, daß sie neben der Tagesroutine bereit sind, sich überraschen zu lassen. Die ersten Monate waren also ein Lernprozess für beide Seiten: für mich, denn ich mußte verstehen lernen, welche Themen bei der FAZ „ankommen“ und wie ich sie behandeln muß – und für die Redaktion, die einen neuen kulturellen Raum entdeckte. Es dauerte nicht lange, bis ich durchschnittlich zwei bis drei Texte pro Monat im Feuilleton veröffentlichte, einschließlich Buchbesprechungen und Reportagen in der Samstagbeilage und im Reiseblatt.

Es war noch die Zeit des großen wirtschaftlichen Erfolgs für die deutschen Tageszeitungen. Das Internet raubte ihnen noch keine Anzeigen-Einnahmen. Das Feuilleton expandierte, es gab Sonderseiten und Beilagen. Die FAZ beschäftigt fest angestellte Kulturkorrespondenten in den bedeutenden Hauptstädten der westlichen Welt, in einigen sogar mehrere. Was Asien betrifft, sind Feuilleton-Korrespondenten in Kleinasien, in Moskau und in Japan stationiert. Vor einigen Jahren kam ein fähiger Kopf in China hinzu. Der politische Korrespondent mit Sitz in Neu-Delhi „bedient“ die gesamte Südstrecke von Pakistan bis Australien und bereist sie ständig. Für die Beobachtung der innenpolitischen und sozialen Vorgänge Indiens bleibt bei diesem riesigen Revier nur in Ausnahmefällen Zeit übrig, ganz zu schweigen von kulturellen Ereignissen.

Das bedeutete für mich, daß mir ein weites Feld der Betätigung offen stand. Denn ich konnte nicht nur über spezifisch kulturelle Ereignisse berichten, sondern ebenso über gesellschaftliche und sozialpolitische Vorgänge und Hintergründe. Ich durfte einen weitgefaßten Kulturbegriff vertreten und war glücklich damit. Das Feuilleton hat eine eigenständig arbeitende und entscheidende Redaktion. Sie braucht ihre Tagesberichterstattung nicht mit der politischen oder Wirtschaftsredaktion abzustimmen. Das gab mir die Freiheit, die Kulturberichterstattung nicht bloß als Anhängsel der politischen Berichte zu gestalten, wie es anderswo häufig geschieht Im Gegenteil, ich wurde dazu angehalten, meine Artikel nicht zu politisch zu schreiben; dann schickte man mir eine Ermahnung. Sozialpolitische Inhalte sollten mit Kultur „verpackt“ und mit ihr in Beziehung gebracht werden. Wenn ich zum Beispiel über die Ungerechtigkeit des Kastenwesens und der Kastenpolitik schrieb, zitierte ich stets einen Schriftsteller oder Akademiker.

 

Was kommt an?

Wäre diese weiträumige Berichterstattung von Kultur bis Politik nicht möglich gewesen, wäre es schwer gewesen, genügend im engeren Sinne kulturelle Themen zu finden, die für den deutschen Sprachraum relevant sind. Damit kommen wir zu der Frage: Welche indischen Kulturthemen kann man in einem deutschen Feuilleton darstellen? Was „kommt an“? – Allgemein gesprochen, es kommt an, was für die Leser relevant gemacht werden kann. Es muß vermieden werden, Themen zu wählen, die keine Beziehung zu Deutschland und zum deutschen Leser haben. Also etwa einen Artikel über eine hervorragende Ausstellung eines indischen Malers in einer Galerie von Neu-Delhi oder über ein aufsehenerregendes Konzert eines jungen, vielversprechenden Musikers in Madras, wird keine Chance haben. Solche Ereignisse haben eine innerindische Relevanz, sei die kulturelle Leistung noch so bedeutend. Wenn derselbe indische Maler aber schon in europäischen Museen ausgestellt hat, oder wenn er etwa besondere europäische Motive einbezieht oder europäische Verhältnisse reflektiert, mit anderen Worten, wenn sich auf irgendeine Weise eine Beziehung zur kulturellen Identität der deutschen Leser herstellen lässt, gewinnt das Ereignis sogleich ein Interesse. Darüber zu berichten, fällt nicht mehr schwer. Wenn zum Beispiel jener indische Künstler mit Darstellungen des Kreuzes oder ein Musiker indische Musik mit Mozart-Melodien in Beziehung setzt, können solche Phänomene für einen interessanten Artikel benutzt werden. Etwas muß in das Erfahrungsfeld der Leser hineinreichen, damit dies als „Aufhänger“ benutzt werden kann, um das Unbekannte und Fremde darzustellen und die Leser damit vertraut zu machen.

Meine wesentliche schriftstellerische Herausforderung besteht darin, solche Brücken zu den Lesern zu finden oder herzustellen. Solche Brücken können auch zu indischen Phänomenen gefunden werden, die deutschen Lesern allgemein bekannt sind. Als der Ex-Premierminister Narasimha Rao einen Roman schrieb, konnte ich darüber berichten, weil Rao als Politiker auch in Deutschland bekannt war. Als der bekannteste indische Künstler, M.F. Husain, in Berlin eine Ausstellung hatte und zudem einen runden Geburtstag feierte, bekam ich eine ganze Seite in der Wochenendbeilage. Ohne seine Berliner Präsenz wäre es kaum möglich gewesen.

In der Auswahl meiner Themen war es wichtig, mich darauf zu konzentrieren, was die gebildete indische Gesellschaft, gespiegelt durch die Medien, zu einem gegebenen Zeitpunkt besonders bewegte, woran sich die Gesellschaft rieb oder was sie aufregte oder begeisterte. Also weg von isolierten Ereignissen, hin zu einer Analyse von gesamtindischen Diskursen! Zum Beispiel war die Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten für mich ein Thema, weil die indische Öffentlichkeit ein ungewöhnlich starkes Interesse daran zeigte. Die Frage, die diesem Interesse zugrundelag, hieß: Warum gelingt es uns, dem indischen Volk, nicht, auch „einen Obama“, also einen Vertreter einer ethnischen oder religiösen Minderheit, in das höchste Staatsamt zu wählen? Den im letzten Monat erfolgten Parlamentswahlen in Indien widmete ich einen langen Aufsatz, weil das Phänomen demokratischer Wahlen hierzulande allgemein Interesse weckt, so dass ich meinen Aufsatz an dem Gegensatz zwischen Deutschland und Indien aufbauen konnte und auf diese Weise das Besondere indischer Wahlen herausarbeitete. Dabei kam es mir eben nicht auf die Beschreibung der Parteienlandschaft an, was Aufgabe des politischen Teils ist, sondern auf die sozialen Hintergründe, vor denen die Wahl stattfand. Mir kam es darauf an, hervorzuheben, mit welchem gigantischen Aufwand und welch rigoroser Organisation alle fünf Jahre die Parlamentswahlen durchgeführt werden. Diese drei Monate lange, disziplinierte Durchführung der Wahlen widerspricht dem landläufigen Bild von einer trägen und chaotischen Bürokratie, das man sich in Europa von Indien macht.

 

Kontexte herstellen!

Wollte ich ein Leitwort wählen, das mich bei der Wahl und Behandlung der Themen immer begleitete, dann hieße es: Kontexte herstellen! Bei einem geographisch wie kulturell so weit entfernten Land wie Indien war es bei jedem Ereignis, von dem ich berichtete, notwendig, dessen sozialen, geschichtlichen und kulturellen Kontext deutlich zu machen. Nur wenn dieser allgemeine Zusammenhang deutlich wurde, konnte das zu berichtende Ereignis gerecht dargestellt und die Wertung des Ereignisses, die ich ihm gab, nachvollziehbar werden. Als ich letztes Jahr über die Verfolgung der Christen durch Hindu-Fundamentalisten schrieb, habe ich zunächst die Geschichte der christlichen Bekehrungen in Indien skizziert, um auf die Verwundungen der Hindu-Psyche durch aggressive Missionierung hinzuweisen. Aber gleichzeitig musste auch dargestellt werden, dass die fortschrittliche Sozialarbeit der Kirchen die Macht der Hindus bedrohte und sich darum viele Hindus aggressiv gegenüber den Christen verhielten. Nur so wurde der soziale Kontext deutlich, in dem die Gewalt gegen die Christen verständlich – aber natürlich nicht entschuldigt – wurde. Als zur Zeit vor den Olympischen Spielen in Peking die Tibeter in Indien durch Proteste massiv auf ihre Unterdrückung aufmerksam machten, schrieb ich über die Gründe, warum die indische Regierung einerseits die Proteste zulassen musste, andererseits sie aber nicht unterstützen durfte. Indien konnte den Nachbarn und Handelspartner China nicht verärgern, war aber als demokratisches Land dazu verpflichtet, Meinungsäußerungen zu ermöglichen.

Kontextualisierung war und ist für mich eines der wesentlichen Methoden, Indien realistisch und gerecht darzustellen. Das bedeutet, dass ich die moderne Geschichte Indiens, aber auch die sozialen Strukturen ständig einbeziehe, innerhalb denen das Ereignis, über das ich berichte, geschehen ist. Oft rufen wesentliche politische Ereignisse, die auf den politischen Seiten abgehandelt werden, geradezu nach einer Verdeutlichung in einem Feuilletonartikel, der die Hintergründe erhellt und dadurch das politische Ereignis in seinen Zusammenhängen erklärt.

Als im letzten Jahr Terroristen in Bombay zwei Luxushotels angriffen und beinahe zweihundert Menschen zu Tode kamen, war Indien und war die Welt schockiert. Wie konnte sich eine Handvoll Terroristen über das Meer Zutritt zu Bombays Straßen und, ohne Widerstand zu erfahren, in zwei große Hotels verschaffen? Ich versuchte im Feuilleton zu erklären, dass Inder intuitiv aus einem Familiengefühl heraus empfinden, denken und handeln. In dieser Familiarität des Umgangs mit Menschen entsteht kaum Risikobewussstsein, entstehen kaum Normen der Sicherheit, die rigoros eingehalten werden. In den indischen Menschen lebt ein Urvertrauen, das seit der Kindheit im intimen Verkehr mit der Mutter und dem Mutterleib anerzogen ist. Daraus entsteht dann im öffentlichen Leben ein Verhalten, das sich als Sorglosigkeit, Nachlässigkeit, Indisziplin darstellt, das aber eben einem tiefen kindlichen Vertrauen entspringt. Ohne diese Zusammenhänge zu erfassen, würde man den indischen Staat im Zusammenhang mit der Terrorgefahr bloß als inkompetent tadeln.

Andererseits ist es aber notwendig zu wissen, dass dieses große Medienspektakel um knapp zweihundert Tote nur deshalb gemacht wurde, weil die Opfer wohlhabende Menschen aus der Oberschicht waren, die in der Gesellschaft die Meinungen bestimmen. Es sterben Tag für Tag im Durchschnitt 17 Menschen, weil sie aus den überfüllten Vorstadtzügen von Bombay fallen oder auf den Gleisen zermalmt werden. Das heißt, alle zwei Wochen sterben rund zweihundert Menschen – arme Menschen, oft Menschen aus den Slums – durch Bombays Züge. Darüber regt sich niemand auf! Auf solche Relationen hinzuweisen, ist mir ein wichtiges Anliegen.

 

Wie reagiert die Dorfbevölkerung?

Wie in diesem Bericht über Bombay, so habe ich immer versucht, wegzukommen von Klischeethemen und vielmehr neue Themenbereiche zu eröffnen. Ich habe zum Beispiel kein einziges Mal über die heilige Kuh und nur einmal über den Taj Mahal geschrieben. Auch die Hijras, die Witwen von Benares, die Dhabawallas von Bombay oder die Teppichknüpfkinder sind nie vorgekommen. Stattdessen habe ich mich bemüht, so häufig wie angemessen, die Situation der Dorfbewohner und der Dorfkultur sowie der Armen einzubeziehen. Ich wehre mich dagegen, „indische Kultur“ mit der städtisch-mittelständischen Kultur zu identifizieren, wie es weitgehend in den westlichen, aber auch in den indischen Medien geschieht. Es gehört für mich zur Kontextualisierung eines Themas, zu artikulieren, welche Haltung die Menschen im Dorf dazu haben. Denn man soll niemals aus den Augen verlieren, dass immer noch rund 70% der Bevölkerung auf dem Lande wohnt. Dabei musste oft angemerkt, dass die Ereignisse, die vermeintlich ganz Indien bewegen, in den Dörfern kaum bekannt sind oder beachtet werden. Zum Beispiel der Tsunami an der Ostküste Südindiens, der Tausende von Menschen in ein Wassergrab riss, fand in den Dörfern des Landes kaum Reaktionen und Sympathie. Warum? – Weil die überwiegende Mehrzahl der Dorfbevölkerung nie das Meer gesehen hat und sich die zerstörerische Gewalt des Wassers nicht vorstellen kann. Fernsehbilder, die inzwischen auch in abgelegenen Dörfern viele Menschen erreichen, haben ihre eigene, isolierte und beziehungslose, Wirklichkeit, die oft einem echten Verständnis entgegenwirkt, anstatt es zu fördern. Dagegen schien mir wichtig, von Zeit zu Zeit von großen Festen zu erzählen oder die Auswirkungen von Dürre und Fluten auf die gesamte, auch die dörfliche, Bevölkerung zu beschreiben.

Durch die Kontextualisierung versuche ich auch Phänomene zu erklären, denen man in Europa mit blinder Kritik und Ablehnung begegnet. Etwa die untergeordnete Stellung der Frau, die Kinderarbeit, gewisse Moralvorstellungen in Bezug auf Sexualität. Wohlgemerkt, ich versuche zu erklären, nicht zu entschuldigen!

Ein Thema, das ich immer wieder aufgreife, ist die Religiosität der Inder, mitsamt der konfliktreichen Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen. Ein weiteres Thema ist Bollywood und der sogenannte indische Art Film, weil Indien eben auch Filme produziert, und zwar sowohl in Bollywood wie auch außerhalb, die kulturell ernst zu nehmen sind. Filme erhellen wie kaum eine andere Kunstform das kulturelle Selbstverständnis der Inder. Die engagierten Aufsätze und sozialen Protestaktionen der Schriftstellerin Arundhati Roy habe ich häufig vorgestellt und analysiert.

Höhepunkte meiner Arbeit waren das Deutsche Festival in Indien im Jahr 2000-2001, sowie die Frankfurter Buchmesse 2006, zu der Indien als Gastland eingeladen worden war. Weiter der Bericht einer Reise durch Nepal und Tibet zum Berg Kailash im September 2001, kurz nach den Terroranschlägen in New York. Doch die bewegendste Begegnung war die mit Günter Grass Anfang 2005 in Kalkutta, als ich ihn zehn Tage begleiten durfte, um danach über diesen seinen dritten und bisher letzten Kalkutta-Aufenthalt zu schreiben. Über Günter Grass‘ Beziehungen mit Indien habe ich auch ein Buch in englischer und deutscher Sprache herausgegeben.

Es versteht sich, dass die Beschreibung und Analyse der deutsch-indischen Kulturbeziehungen mit zu meinem Aufgabenbereich gehört. Sowohl in Indien wie in Deutschland halte ich ständig die Augen für neue Impulse und Signale auf. Nicht auf alles kann ich jedoch eingehen. Ein Grund ist, dass ich für meine Aufsätze selten bezahlte Reisen unternehmen darf. Darum versuche ich, immer wenn ich privat oder für Vorträge unterwegs bin, auch journalistisch davon zu profitieren. Als ich zum Beispiel von der bengalischen Diaspora in den Vereinigten Staaten zu einem Vortrag über Tagore eingeladen wurde, ließ ich mir in New York das Stadtviertel „Little India“ zeigen und schrieb einen Essay darüber. Als ich zu einem Vortrag nach Kathmandu reiste, besuchte ich Journalisten und Filmemacher und schrieb darüber. Als ich vom Goethe-Institut nach Bangladesh zu einem Vortrag eingeladen wurde, nutzte ich die Tage, um das kulturelle Leben kennenzulernen.

 

Meine Enttäuschungen

Es gehört dennoch zu den Enttäuschungen, dass ich die Texte in den meisten Fällen in Santiniketan schreiben muss, gestützt zwar durch Zeitungslektüre, Telefonate, frühere Gespräche, jahrzehntelange Erfahrung, aber dennoch aus der Ferne. Die Reisen konnte und kann ich mir nicht leisten. So manche gute Themen bleiben darum liegen, weil die unmittelbare Anschauung zur authentischen Darstellung notwendig gewesen wäre. Auch die Kulturarbeit der Goethe-Institute und der deutschen Stiftungen habe ich nur in Ausnahmefällen würdigen können. In den fast 15 Jahren meines Wirkens hat das Goethe-Institut mich nur einmal zu einer Veranstaltung, und zwar zum deutsch-indischen Filmfestival nach Bangalore, eingeladen. Das Goethe-Institut in Kalkutta hat mich, als Martin Wälde sein Direktor war, häufig gerufen – mein Wohnort Santiniketan liegt nur drei Stunden entfernt. Ansonsten kamen von den Goethe-Instituten auf dem Subkontinent keine Einladungen zu wichtigen Programmen, obwohl ihnen erklärtermaßen an einem guten Image in den deutschen Medien liegt.

Von allen Künsten habe ich die indische Literatur am meisten und differenziertesten erörtern können. Im Laufe der Jahre sind Dutzende von Besprechungen über deutsche Übersetzungen indischer Romane und Erzählungen gedruckt worden. Naturgemäß behandelt die Mehrzahl dieser Kritiken in Englisch geschriebene Literatur. Die neuen Werke etwa von Amitav Ghosh, Amit Chaudhuri, Jhumpa Lahiri, Rohinton Mistry, Vikram Seth und zahlreichen anderen habe ich besprechen können. Ich lege jedoch Wert darauf, daß auch die wenigen Werke, die aus den Regionalsprachen ins Deutsche übersetzt wurden, besprochen werden, etwa die von Mahasweta Devi, Paul Zachariah, Sunil Gangopadhyay, O.P. Vijayan und einigen anderen. Auf diese Weise soll die geringe Beachtung, die die Regionalliteraturen außerhalb ihres Sprachbereichs erhält, ansatzweise ausgeglichen werden.

Die fruchtbarste Zeit meiner kulturjournalistischen Arbeit waren die vier Jahre von 2000 bis 2003, als ich als „Pauschalist“ der Frankfurter Allgemeinen arbeitete. Ich erhielt für meine Aufsätze eine großzügige Monatspauschale, gleichgültig ob ich nun zwei, drei oder vier Aufsätze ablieferte. Meine Wirkungsmöglichkeit war damals auf ihrem Höhepunkt. Von den Reaktionen zu schließen, hatten meine regelmäßigen journalistischen Kulturberichte nach und nach Einfluss auf die Weise, wie Indien betrachtet wurde. Ich bestimmte meine Themen weitgehend selbst. Nur bei größeren Projekten fragte ich zunächst bei der Redaktion an, etwa als ich über die allmählich aussterbende jüdische Gemeinde in Kalkutta schrieb. Eher selten kam ein Anruf oder eine eMail aus Frankfurt mit dem Wunsch nach einem Aufsatz zu einem bestimmten Thema. Etwa als Benazir Bhutto ermordet wurde, als der Tsunami die Ostküste verwüstete, als die Taliban in Afghanistan die Bamiyan-Buddhastatuen in die Luft sprengten, als Naipaul den Literaturnobelpreis erhielt, und als der Film „Slumdog Millionaire“ acht Oscars bekam.

In den letzten fünf Jahren hat sich der Umfang de Feuilletons verringert, so auch der Platz für Indien. Indien kann sich weiter nur mit Themen behaupten, die spannungsreich und brisant sind, in denen Charisma und Dilemma des Landes zugleich aufleuchten und auf knappem Raum beschrieben werden. Doch verbiete ich mir streng, die Themen zu sensationell aufzubereiten. Sie müssen aus sich selbst und ihrem Kontext heraus sprechen. Um dies zu ermöglichen, ist vor allem indische Lebenserfahrung notwendig. Ich habe über 35 Jahre in Indien verbracht, ich spreche eine indische Sprache, nämlich Bengalisch, und lebe Tag für Tag mit Indern zusammen. Das sind, meine ich, notwendige Voraussetzungen, um über indische Kultur urteilen zu können. Noch vorteilhafter wäre es vielleicht, ein früheres Leben in Indien verbracht zu haben. Der Glaube an die Wiedergeburt gehört somit zu den Voraussetzungen, die ein Kulturjournalist in Indien erfüllen sollte!

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