Hermann Hesse hat Indien nie betreten. Zweimal hat er Sri Lanka, das damalige Ceylon, besucht, einmal, am 23. September 1911, auf dem Weg nach Indonesien und wieder auf der Rückreise nach Europa vom 11. bis 25. November 1911. Die zwei Wochen im November haben Hesses Bild von „Indien“ geprägt. In seinen Berichten über die Erlebnisse in Sri Lanka, genauer in den Städten Colombo und Kandy und den naheliegenden Tempeln sowie auf seinem Ausflug auf den Berg Pedrotallagalla[i], hat er stets von „Indien“ geschrieben, obwohl Sri Lanka weder Anfang des 20. Jahrhunderts noch jemals danach Teil Indiens gewesen ist. Sri Lanka war eine von Indien getrennte britische Kolonie, die 1948 die Unabhängigkeit erwarb. Der Grund weshalb Hesse dennoch Sri Lanka mit Indien identifizieren konnte, war die kulturelle Ähnlichkeit. In früheren Jahrhunderten ist das ehemalige Ceylon von südindischen Königen beherrscht worden, die die südindische Kultur in Sri Lanka verankerten, die bis heute das Land prägt.
Doch besteht ein wesentlicher kultureller Unterschied zwischen Südindien und Sri Lanka, der auch schon vor hundert Jahren, als Hesse Sri Lanka besuchte, vorhanden war: Die Mehrheit der Bevölkerung ist Anhänger des Buddhismus [70 %], nur eine Minderheit bekennt sich zum Hinduismus [12 %]. In Indien ist es umgekehrt. Der Hinduismus ist die vorherrschende Religion, während der Buddhismus mit weniger als einem Prozent zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken ist. Indien war also auch vor
hundert Jahren nicht mehr buddhistisch geprägt. In Sri Lanka überwiegt die Kultur des Hinayana-Buddhismus, das heißt, des frühen, ursprünglichen Buddhismus. Wie uns Hesses Berichte aus Sri Lanka zeigen, hat er dort diese buddhistische Kultur erlebt.
Hermann Hesse war der Unterschied zwischen Buddhismus und Hinduismus durchaus bewußt. In einem knappen Essay, genannt Hinduismus aus dem Jahr 1923 ist Folgendes zu lesen:
So wohlbekannt und fast populär bei uns der Buddhismus und die Anschauungen des sogenannten Vedanta sind, so wenig gekannt, so gemieden und gescheut bei Gelehrten wie Religiösen ist jene indische Hauptreligion, die man Hinduismus nennt. Es ist jene Religion, deren vielarmige und elefantenköpfige Götzen einst Goethe in einer Stunde schlechter Laune gegen sein eigenes tiefers Ahnen heftig abgelehnt hat..
Wie die „Götter und Götzen“ des Hinduismus auf dem Weg der Kunst und der Übersetzungen klassischer Texte der Philosophie durch deutsche Indologen nach Europa kam, ist ausreichend belegt und braucht hier nicht wiederholt werden. Zwei Jahre später, 1925, griff Hesse das Thema erneut auf, und zwar in dem Aufsatz Aus Indien und über Indien. Er schrieb:
Das eigentliche Wissen um Indien jedoch und die Literatur darüber beschränkte sich bis vor kurzem auf ganz enge Gebiete. Die indische bildende Kunst, die indischen großen Volksreligionen waren noch vor wenigen Jahren bei uns nahezu unbekannt, während über das ‚geistige‘ Indien, aber auch nur
über vereinzelte Gebiete desselben, eine Menge Literatur existierte. Schon seit hundert Jahren war besonders stark das Interesse für die Buddha-Lehre, und noch vor zwanzig Jahren war die Mehrzahl der Europäer der festen Meinung, die Völker Indiens seien alle Buddhisten, während in Wirklichkeit im eigentlichen Indien ja die Zahl der noch vorhandenen Buddhisten verschwindend klein ist. Erst neuestens haben Forschung und Literatur sich auch jenem andern Indien zugewandt, gegen welches einst Goethe sich so abweisend verhielt.
Sobald Hermann Hesse über das „geistige Indien“ allgemein reflektierte, zumal über Indien und Europa, oder „Osten“ und „Westen“, wie es oft geschah, blieben Buddhismus und Hinduismus ungeschieden. Übrigens kritisierte Hesse in seinen Beschreibungen des Volksbuddhismus in Kandy genauso die Äußerlichkeit der Lehre, den Ritualismus und das Diffuse, wie es Goethe hundert Jahre früher, den Hinduismus betreffend, getan hatte. Atmosphärisch war Hesse durch sein Elternhaus mit dem Hinduismus bekannt geworden. Hermann Hesse hatte keine Gelegenheit, längere und tiefe Freundschaften mit Hindus zu pflegen, er kam also durch Menschen nicht unmittelbar mit diesem Glauben in Berührung. Die eine Ausnahme war die Begegnung mit dem jungen bengalischen Historiker Kalidas Nag. Dieser Begegnung im Jahr 1922 widmete Hesse den kleinen, aber bedeutenden Essay Besuch aus Indien. Darin führt Hesse Kalidas Nag, den er nicht namentlich nennt, so ein: „Kürzlich, an einem schönen, etwas verschleierten Abend, erschien bei mir in meinem
Dorf ein schöner bräunlicher Mann, ein gelehrter Hindu aus Bengalen, ein Schüler und Freund von Tagore.“
Das Besondere an dieser Begegnung war, daß Hermann Hesse zum ersten Mal bestätigt erhielt, daß er den Hinduismus nicht nur intellektuell als Studierender erfasst hatte, sondern in seinem „Herzen“. „‘Oh, das ist ganz wie in Indien‘“, zitierte Hesse den eintretenden Nag, der „sich sogleich daheim“ fühlte.[ii] Hesse berichtete, daß Kalidas Nag „erstaunt und erfreut sei, in Europa einen Mann zu finden, dem das östliche Denken nicht bloß durch gelehrtes Studium intellektuell bekannt, sondern im Herzen vertraut und heimisch sei.“
Auch in diesem Aufsatz unterschied Hesse nicht zwischen Buddhismus und Hinduismus, sondern er charakterisierte allgemein seine persönliche Entwicklung als Europäer, inspiriert von seiner Begegnung mit Indien. Die Schritte dieser Entwicklung sind, zusammengefasst, diese:
- Der Überdruß und die Ablehnung Europas, die Hesse nach Indien fliehen lassen, in der Hoffnung, dort ein wahrhaftigeres Leben kennenzulernen. –
Die Enttäuschung, daß seine Vorstellung vom geistigen Indien mit der Wirklichkeit, wie er sie in Sri Lanka und Indonesien erlebte, nicht übereinstimmt. Aber dennoch die Erkenntnis, daß die Menschen in Asien religiös gebunden sind. Hesse schreibt geradezu emphatisch: „Schließlich aber ist doch ein menschlicher Eindruck der stärkste. Es ist der der religiösen Gebundenheit all dieser Millionen Seelen. Der ganze Osten atmet Religion.“
- Die innere Abkehr von Indien, auch dem geistigen Indien.
- Die langsam wachsende Einsicht, daß man „den wahren Osten […] im Herzen und Geist zu eigen machen“ muss[i] und dass man zwischen „dem verehrten Osten“ und „dem kranken, leidenden Westen“ keinen Unterschied mehr machen soll. Denn „in Europa wie in Asien [gab es] eine unterirdische, zeitlose Welt der Werte und des Geistes [ ...und es war] gut und richtig [...], in dieser zeitlosen Welt, in diesem Frieden einer geistigen Welt zu leben, an der Europa und Asien, Veden und Bibel, Buddha und Goethe gleichen Teil hatten.“ Diese bedeutende Einsicht könnte sich als Folge des Besuchs von Kalidas Nag kristallisiert haben. Sie eröfffnete ihm neue Möglichkeiten, Indien literarisch zu verarbeiten, nämlich mythische, zeit- und ortsenthobene, wie wir sogleich sehen werden.
Hermann Hesses Gegenüberstellung von Osten und Westen, von Indien und Europa ist der deutschen Romantik und ihrer Tradition verpflichtet. Hesses Indien-Romantisierung bedient sich vieler Vokabeln – auch Klischees –, die zum romantischen Reservoir der Indien-Sehnsucht und zu Indien als einer Alternative für Europa gehören. Immer wieder charaktersiert Hesse die Menschen, denen er begegnet als „sanft“ und „sanftmütig“, als „kindlich“ und „schön“, Begriffe, die schon Herder und Schlegel gebraucht haben, um Inder zu beschreiben. Dabei kämpft in Hesse in den Jahren nach der Asienreise der Wunsch, den Osten anzuerkennen,
- wir sogleich sehen werden.
Hermann Hesses Gegenüberstellung von Osten und Westen, von Indien und Europa ist der deutschen Romantik und ihrer Tradition verpflichtet. Hesses Indien-Romantisierung bedient sich vieler Vokabeln – auch Klischees –, die zum romantischen Reservoir der Indien-Sehnsucht und zu Indien als einer Alternative für Europa gehören. Immer wieder charaktersiert Hesse die Menschen, denen er begegnet als „sanft“ und „sanftmütig“, als „kindlich“ und „schön“, Begriffe, die schon Herder und Schlegel gebraucht haben, um Inder zu beschreiben. Dabei kämpft in Hesse in den Jahren nach der Asienreise der Wunsch, den Osten anzuerkennen, mit der Abneigung gegenüber ihren religiösen Praktiken. Hören wir dieses höchst ambivalente, wenn nicht paradoxe, Resümee seiner Reise:
Schön und nachdenklich war es auch, alle diese Menschen bei ihren religiösen Übungen zu sehen, Hindu, Mohammedaner und Buddhisten. Sie haben alle, vom reichen städtischen Häuserbesitzer bis zum geringsten Kuli, Religion. Ihre Religion ist minderwertig, verdorben, veräußerlicht, verroht, aber sie ist mächtig und allgegenwärtig wie Sonne und Luft, sie ist Lebensstrom und magische Atmosphäre und sie ist das einzige, um was wir diese armen und unterworfenen Völker ernstlich beneiden dürfen.
Diese Verallgemeinerung des Indien-Erlebnisses umfaßt spannungsreich die Angehörigen aller Religionen, ja alle Menschen Indiens. Verehrung und Verwerfung des Religiösen in Indien sieht Hesse in einem Gegensatz zu Europa, das religionsentleert ist, also weder das Verdorbene noch das Magisch-Allgegenwärtige des Religiösen kennt.
Um zu verstehen, warum ich den Hinduismus als Denkweise bezeichne, hole ich ein wenig aus. Man kann und soll den Hinduismus nicht mit den Maßstäben, den Kategorien des Europäers begreifen. Wir beginnen deshalb mit einigen Unterscheidungen.
Wir teilen allgemein die großen Religionen in die drei Monotheismen und die „asiatischen Religionen“ auf. Das
Judentum, das Christentum und der Islam, verehren den einen Gott – Yaweh, Christus und Allah – und achten streng darauf, dass ihm keine „kleineren“ Götter oder gottähnliche Gestalten den Rang streitig machen.
Im indischen Raum ist der Hinduismus entstanden, und etwa im 5. Jahrhundert vor Christus haben sich aus dem Hinduismus der Buddhismus und Jainismus entwickelt. Der Buddhismus war eine Antwort auf die übertriebene Ritualisierung des Hinduismus, auf die Macht der Priester, der Brahmanen-Kaste, die diese Riten ausführten, auf die mit der Ritenfülle einhergehende überwältigende Flut von Göttergestalten.
Damit ist ein Dilemma des Hinduismus umschrieben: seine kaum fassliche und immer wieder neu auswuchernde und überfließende Fülle. Dies nahm Goethe zum Anlaß seiner Kritik, die Hermann Hesse mehrmals bestätigt. Der alternde Goethe konnte diese charakteristische Formlosigkeit, das Gewimmel indischer Tempelskulpturen nicht ertragen und bevorzugte klassische Strenge und Formung; ein Jahrhundert später konnte Hermann Hesse dieselbe Formlosigkeit und Fülle nicht ertragen, als er buddhistische Tempel in Sri Lanka besuchte.
Der Hinduismus ist eine Erfindung der Lehrbücher, die ihn in ein System pressen wollen. Eher läßt sich der Hinduismus als ein Bündel von Glaubensgemeinschaften (Sampradaya) verstehen, die nur einige Glaubenselemente gemeinsam haben. Gemeinsam ist ihnen die geographische Nähe zueinander und die Anerkennung einiger klassicher heiliger Schriften. „Hindus“ waren zunächst jene Menschen, die jenseits des Flusses Indus wohnten, also östlich des Indus, der durch das indische Kashmir und Pakistan verläuft.
Im Lauf der Geschichte konnte der Hinduismus seine geographische Integrität nicht bewahren, weil Hindus nun mit Buddhisten, Jainas, Muslimen, mit Sikhs und Christen zusammenlebten. Wohl aber bewahrten Hindus ihre Integrität als Volk. Um sich von den Ureinwohnern – den Adivasis – abzugrenzen, teilte sich das Volk schon früh in Berufsstände auf, die zu hierarchischen Kasten fossilierten: die Priester, die Herrscher und Krieger, die Geschäftsleute und als vierte die Dienstleute. Durch diese Hierarchie schufen die Hindus eine Gesellschaft, die nach außen isoliert war. Man mußte – und muß bis heute – als Hindu geboren sein und kann nicht durch Bekehrung oder Einheirat zu einem Hindu werden. So jedenfalls sieht es die konservative Tradition vor. Der Hinduismus ist also im Wesentlichen ein Volk, eine Gesellschaft, die in sich geschlossen ist. Nur wer einer bestimmten Kaste angehört, ist ein Hindu. Der Hinduismus ist nur sekundär eine Gemeinschaft mit bestimmten religiösen Inhalten.
Die Identität dieses Volkes der Hindus definiert sich also durch seine gesellschaftliche Ordnung und als nächstes durch seine Riten. Der Ritus will die Beziehung der Menschen zu den Mitmenschen, zur Natur, zum Kosmos und zu den Ahnen herstellen. Diese Riten bilden das Gerüst der Hindu-Existenz, durch das die Einzelnen ihren Platz in der Gesellschaft, innerhalb der Natur und im Kosmos erfassen.
Die Religiosität der Hindus besitzt eine ausgeprägt kosmische Dimension, im Gegensatz zu den Christen, die sie im Zuge des Rationalismus, der Profanierung des Lebens und der Entmythologisierung ihrer Kultur fast verloren haben. Die
kosmische Dimension drückt sich darin aus, daß Hindus die Menschen, die Natur und die gesamte Schöpfung bewusst auf Gott beziehen und darin Gottes Wirken erleben.
Nachdem wir Ritus und Kosmosbindung knapp vorgestellt haben, kommen wir zum Kern des Hinduismus, seiner Denk- und Fühlweise. Sie ist immer wieder untersucht und beschrieben worden; hier beschränken wir uns auf einige Stichworte. Das Selbstverständnis der Hindus beruht weniger auf einem Lehrgebäude, auf Geboten und Tugenden, auch nicht auf einem geschichtlichen Bewußtsein, wie in den Monotheismen, sondern eher auf einem nicht-rationalen, keinem System unterworfenen Korpus von Geschichten, dem Mythos. Diese Mythen, vor allem die Epen Mahabharata und Ramayana, sind in der mehrtausendjährigen Geschichte des Hinduismus immer wieder nacherzählt, übersetzt, interpretiert und neuen Gegebenheiten angepasst worden – entsprechend dem Verständnis neuer Volksschichten und neuen ethischen Vorstellungen. Während den Monotheismen ein im Wortlaut fester Kanon heiliger Schriften zugrundeliegt, verfügt der Hinduismus über ein Konvolut von narrativem Material, das ungeordnet – ungezähmt – vielschichtig und in sich vielfach widersprüchlich – stets dynamisch in Bewegung ist. Darum wird niemals eine bestimmte Aussage, eine bestimmte „Wahrheit“ oder ein Gesetz festgeschrieben, sondern eine bestimmte „Wahrheit“ sieht aus verschiedenen Perspektiven immer anders und neu aus. Dieser Perspektivismus bestimmt das Hindu-Denken und -Fühlen.
Während in unserem diskursiven Denken das Eine stets das Eine bleibt, also ein Entweder-Oder-Denken vorherrscht, kann im Hinduismus das Eine ebenso, je nach Situation, etwas Anderes werden. Ich nenne es das Sowohl-Als Auch-Denken. Im westlichen Verständnis herrschen sich ausschließende Gegensätze vor, im indischen Verständnis Polaritäten, bei denen der eine Pol bis zu seinem Gegenpol heranreicht.
Dieses Denken ist intuitiv, situationsgebunden, vom Fühlen mehr als vom deduktiven Denken bestimmt, vom assoziativen eher als vom logisch-diskursiven Fortschreiten, von der Evokation eher als von der Analyse. Diese Mentalität nun durch unsere cartesianisch-theologische Weise zu erfassen, ist aussichtslos. Sie wird sich uns immer wieder mit ihrer unendlichen Folge des Perspektivenwechsels entziehen.
In diesem perspektivischen Denken und Fühlen, diesem Begreifen durch Geschichten anstatt Gesetzmäßigkeiten, diesem Verstehen in Polaritäten anstatt Gegensätzen sehe ich den Urstoff des Hinduismus und den eigentlichen Unterschied zu den Monotheismen.
Kehren wir zu Hermann Hesse zurück. Meine These ist, dass der Dichter dieses Eigentliche des Hinduismus verstanden, geschätzt und auch, bewusst oder halbbewusst, in seinem Schaffen nachvollzogen hat.
Seine literarische Beschäftigung mit dem Hindismus sehe ich als einen Dreischritt. Der erste Schritt ist die unmittelbare Auswertung der Erlebnisse auf seiner Reise im Jahr 1911 durch seine Tagebücher und Berichte und die mittelbare Verwertung in
Buchbesprechungen und Briefen. Der zweite Schritt ist der „indische Roman“ Siddhartha. In eine einfache Fabel gekleidet, also narrativ aufgelöst, beschreibt Hesse einen Lebenslauf, den der Autor im Rahmen des Hinduismus als exemplarisch erachtet, in dem sich aber auch Europäisches, zumal sein eigenes Leben widerspiegelt.[i]
Der dritte Schritt zeigt sich in den Romanen Morgenlandfahrt und Glasperlenspiel. Hier ist die Behandlung des Hinduismus-Themas auf eine Ebene gehoben worden, in der eine narrative Abfolge nicht mehr bestimmend ist. Diese Romane haben keine „Handlung“ wie sie noch in „Siddhartha vorhanden war. Stattdessen wird das Thema in einem ständigen, spannungsreich voneinander abgesetzten Perspektivenwandel dargestellt. Keine durchlaufende, komponierte Handlung bestimmt diese Texte, sondern Assoziationsketten. Der Wechsel der Perspektiven ist zeit- und ortsübergreifend. Das heißt, der Wechsel richtet sich nach dem Thema und missachtet gewollt das Kontinuum von Zeit und Ort. In der „Erzählung“ Morgenlandfahrt wechselt die Zeit immer wieder von der Erzählgegenwart in frühere Jahrhunderte. Dem Protagonisten begegnen Gestalten, die vor Jahrhunderten lebten, die Fahrt ins Morgenland findet in Italien oder in Deutschland statt. Es heißt:
Schwierig wird das Erzählen ferner dadurch, daß wir nicht nur durch Räume wanderten, sondern ganz ebenso durch Zeiten. Wir zogen nach Morgenland, wir zogen aber auch ins Mittelalter oder ins goldne Zeitalter, wir streiften Italien oder die Schweiz,
wir nächtigten aber auch zuweilen im zehnten Jahrhundert und wohnten bei den Patriarchen oder bei Feen.“
Die Morgenlandfahrt ist zunächst bedrängende Gegenwart, sie wird Erinnerung, danach aber wieder allgegenwärtig. Die Morgenlandfahrer machen ihre Erfahrungen einerseits im Äußeren, anderseits finden sie sie im Innern, im Seelenraum des Menschen. Unterschiedliche Erfahrungen und Urteile sind aneinandergereiht, Widersprüche im Logischen bleiben unaufgelöst, ein scheinbares Chaos bleibt auf einer Meta-Ebene in einem feinen Gleichgewicht seiner Elemente. Meine Ahnung ist, dass Hermann Hesse diesen Stoff zu einem Mythos nur deshalb geformt hat und formen konnte, weil er den Hinduismus kennengelernt und in seiner Eigenart des Denkens und Fühlens erkannt hatte und sich ihm wesensverwandt fühlte. Hesse verzeichnete mit Genugtuung in seinem Essay ‚Besuch aus Indien‘, daß Kalidas Nag ihm eine Vertrautheit mit östlichem Denken bescheinigte: Nag sei „erstaunt und erfreut [...], in Europa einen Mann zu finden, dem das östliche Denken nicht bloß durch gelehrtes Studium intellektuell bekannt, sondern im Herzen vertraut und heimisch ist.“
Hermann Hesse hat diese Ebene der Hindu-Denkweise gespürt, als er 1923 in der Besprechung von Helmuth von Glasenapps Buch „Der Hinduismus“ schrieb:
Und so beherbergt der Hinduismus [ ...] friedlich in paradiesischer Buntheit die ungeheuersten Gegensätze, die widersprechendsten Formulierungen, die denkbar gegensätzlichsten Dogmen, Riten, Mythen und Kulte in sich, das
Zarteste neben dem Rohsten,das Spirituellste neben dem massig Sinnlichsten, das Gütigste neben dem Grausamen und Wilden.
Die Wahrheit, das Ewige, ist nicht in diesen Gestaltungen, auch nicht in den feinsten und edelsten, die Wahrheit ist hoch darüber. Und so mag der Brahmane Gottesgelehrtheit treiben, der Sinnliche den zeugungsfrohen Krishna lieben, der Einfältige die mit Kuhmist bestrichene Steinfratze anbeten – es ist vor Gott alles dasselbe, es ist eine nur scheinbare Mannigfaltigkeit, es sind nur scheinbare Gegensätze.
Die Morgenlandfahrt kommt immer wieder auf Indien und namentlich auf indische Gestalten zu sprechen. Dabei sind „Indien“ und jene indischen Namen Signale für die religiösen Sehnsuchtsziele der Morgenlandfahrt. Krishna wird erwähnt, Buddha, auch Siddhartha und Vasudeva aus Hesses Roman Siddhartha. Überdies werden Gewährsleute des Geistes, Dichter, Maler und Musiker genannt, die zeit- und raumlos, geheim und für weniger sensible Menschen unerkannt die geistige Atmosphäre des Lebens verkörpern und tradieren. Diese Kette von Gewährsleuten erinnert an Hesses Reaktion auf den „schönen Hindu“ Kalidas Nag, als er von dem anderen Europa sprach, das vom Orient nicht unterschieden sei: „…in Europa wie in Asien [gab es] eine unterirdische, zeitlose Welt der Werte und des Geistes [ ... und es war] gut und richtig war, in dieser zeitlosen Welt, in diesem Frieden einer geistigen Welt zu leben, an der Europa und Asien, Veden und Bibel, Buddha und Goethe gleichen Teil hatten.“
In der hinduistischen Denk- und Fühlweise machen sich zwei gegenläufige Bewegungen bemerkbar. Die eine ist die Tendenz, das Konkrete zu entkonkretisieren, also aufzulösen. Das Konkrete wird auf die geistige Ebene gehoben. Dies bedeutet einen ständigen Drang zur Transzendierung oder Vergeistigung des Gegenständlichen. Das Geistige verwirklicht sich, um mit William S. Haas zu sprechen im „reinen Subjekt“.[i] Während sich das Abendland um die „Erhaltung der Phänomene“ bemüht, versucht der Osten, sie abzuwehren und abzubauen und das Denken und Fühlen auf reine Bewußtseinszustände zurückzuführen. „Nur das ist begriffen, was man wird und was man ist.“ Gern wird das Menschliche deifiziert, der Mensch wird zum Gott erhöht, wie etwa im Guruwesen. Aber die umgekehrte Bewegung ist ebenso vorhanden: nämlich das Göttliche kommt herab zum Menschen, humanisiert sich, wie etwa als Avatara (Herabkunft eines Gottes).
Wer Die Morgenlandfahrt daraufhin liest, bemerkt diese selben zwei Tendenzen: Das Konkrete löst sich auf; das Abstrakte, Ideenhafte wird konkret. Oder auf anderer Ebene: das Menschliche wird ins Göttliche transzendiert und umgekehrt tritt das Göttliche in den Menschen ein. So löst sich die konkrete Wanderung zum Morgenland immer wieder auf zu einer historischen oder mythischen Bewegung, oder zu einer Bewegung, die im Seelenraum stattfindet: So heißt es etwa: Der Zug nach dem Morgenland geht nach dem „Osten, nach der Heimat des Lichts, unaufhörlich und ewig, er war immerdar durch alle Jahrhunderte unterwegs, dem Licht und dem Wunder entgegen…“. Immer schreitet der Prozess vom Individuellen und Konkreten zum Typischen fort, von dort zum Symbolischen, was bereits eine Verallgemeinerung des Individuellen und der Ansatz zur
Mythifizierung ist. Danach ist es nur ein kurzer Schritt zum Gestaltlosen oder Abstrakten, in dem die Dinge in ihrem Wesen aufgehoben sind. Die klarste – eine geradezu visionäre – Passage in der Morgenlandfahrt zu diesem Thema heißt:
Damit etwas wie Zusammenhang, etwas wie Kausalität, etwas wie Sinn entstehe, damit überhaupt irgend etwas auf Erden erzählbar werde, muß der Geschichtsschreiber Einheiten erfinden: einen Helden, ein Volk, eine Idee, und muß das, was in Wirklichkeit im Namenlosen passiert ist, dieser erfundenen Einheit geschehen lassen.
Das heißt, das „Namenlose“, das Abstrakt-Geistige ist der eigentliche Zustand, die Phänomene, das Konkrete dient nur der Erzählbarkeit, dem Erfassen der Wirklichkeit, es ist jedoch „erfunden“.
Ein anderes Beispiel: So antwortet Leo im vierten Teil der Morgenlandfahrt auf die Frage, ob er „zum Bunde“ der Morgenlandfahrer gehöre: „Ich bin immer auf der Fahrt, Herr, und ich gehöre immer zum Bund.“ Solche absolutierenden Antworten mögen Abendländer verärgern, weil sie darin ein Ablenkungsmanöver hin zur belanglosen Verallgemeinerung sehen; im Alltag Indiens ist jedoch eine solche Antwort reflexhaft üblich und gehört als Denk- und Fühlfigur zum normalen Leben.
Zu dieser Tendenz gehört auch der Drang von individuellen Beobachtungen hin zur kosmischen Schau, die ich bereits nannte. Sie beginnt bei der Betrachtung der konkreten Natur und weitet sich dann aus bis zu den Sternen, die kaum zu sehen und niemals
„erfunden“.
Ein anderes Beispiel: So antwortet Leo im vierten Teil der Morgenlandfahrt auf die Frage, ob er „zum Bunde“ der Morgenlandfahrer gehöre: „Ich bin immer auf der Fahrt, Herr, und ich gehöre immer zum Bund.“ Solche absolutierenden Antworten mögen Abendländer verärgern, weil sie darin ein Ablenkungsmanöver hin zur belanglosen Verallgemeinerung sehen; im Alltag Indiens ist jedoch eine solche Antwort reflexhaft üblich und gehört als Denk- und Fühlfigur zum normalen Leben.
Zu dieser Tendenz gehört auch der Drang von individuellen Beobachtungen hin zur kosmischen Schau, die ich bereits nannte. Sie beginnt bei der Betrachtung der konkreten Natur und weitet sich dann aus bis zu den Sternen, die kaum zu sehen und niemals zu „erfassen“ sind. Eine solche kosmische Schau ist auch in der Morgenlandfahrt angelegt und fließt häufig in den assoziativen Erzählstrom ein. Nur ein Beispiel. Als der Ich-Erzähler nach langen Jahren Leo begegnet, kraulte jener liebevoll seinen Hund Necker. Dieser in sich wenig bedeutende Vorgang wird ins Allgemein-Kosmische projiziert:
Die Freundschaft und das Vertrauen [...] schien nicht nur diesem Hunde Necker, sie schien jedem Tier, jedem Regentropfen, jedem Fleck Erdboden zu gehören, den Leo betrat, er schien beständig sich hinzugeben, immerzu in fließender, wogender Beziehung und Gemeinschaft mit seiner Umgebung zu stehen, alles zu kennen, von allen gekannt und geliebt zu sein [...].
Aufgefangen und zur Ruhe kommen diese Wechsel der Perspektive und gegenläufigen Bewegungen in der Abstraktion, der absoluten Transzendenz, oder anders gesprochen: in der Schau des Einsseins. Der Hinduismus strebt letztlich in allen seinen Gruppierungen zu einer menschlichen und göttlichen und gottmenschlichen Vereinigung und zu dem Zustand des Einsseins. Auch die Morgenlandfahrt kennt Sätze, die diese Sehnsucht nach dem Einssein ausdrückten. So bezeichnet der Erzähler die Morgenlandfahrt als „Überall und Nirgends, […] das Einswerden aller Zeiten.“ Und bedauernd fügt der Erzähler hinzu: „Doch wurde mir dies nur je und je für einen Augenblick bewußt.“[iii] Am eindrücklichsten ist gewiss die Einheitsszene zum Abschluß des Siddhartha, als Siddhartha von seinem in die Irre gegangenen Gefährten Govinda einen Kuß auf die Stirn empfängt, was
Govinda zu der Schau der kosmischen Einheit befähigt. Hesse wie der Hinduismus ringen um die Ausdrückbarkeit des Einsseins durch Sprache. Es lässt sich zeigen, daß beide nur durch paradoxe Sprachfügungen diese Einheit sprachlich bewältigen. Gegensätze fallen zusammen, werden zwar nicht aufgelöst, evozieren jedoch das Gespür für unio mystica.
Zahlreich sind die Parallelen, die sich zwischen der hinduistischen Denk- und Fühlweise von Hesses Morgenlandfahrt aufzeigen lassen. Zum Schluß sei darauf hingewiesen, dass Hermann Hesse gerade in dem Erlebnis der Einheit der Menschheit, das er 1911 auf seiner Asienreise machte, als den größten Gewinn bezeichnete. So schrieb er in seinem Essay „Erinnerung an Indien“:
Diese kleine, uralte Binsenweisheit, dass es über die Völkergrenzen und Erdteile hinweg eine Menschheit gibt, ist für mich das letzte und größte Erlebnis jener Reise gewesen, und sie ist mir seit dem großen Kriege immer wertvoller geworden.