Sein Schicksalsort Indische Faszination: Mit Günter Grass in Kalkutta

 

F.A.Z., Donnerstag den 16.04.2015 Feuilleton 11

Sein Schicksalsort

Indische Faszination: Mit Günter Grass in Kalkutta

KALIMPONG, 15. April

Noch an seinem 85. Geburtstag in Lübeck sprach Günter Grass mit mir über „Netaji“ Subhash Chandra Bose, den indischen Freiheitskämpfer, der das nationalsozialistische Deutschland besuchte, um Hitler gegen die britischen Kolonialherren aufzuwiegeln. Grass hatte in Kalkutta über den Revolutionär gelesen, war fasziniert von diesem Mann, der den Teufel mit Beelzebub austreiben wollte, und plante bis zuletzt, über ihn zu schreiben.

Kalkutta war eine jener Städte, in die Günter Grass immer wieder zurückkehrte: auf seinen Reisen, in seinem Werk und in seinen Gesprächen. Kalkutta ist die Ikone der Armut, aber auch des mutigen Überlebens. Dieses Faszinosum, wie die Armen oft mit einem fröhlichen Gesicht überleben, packte Grass.

Zu seinem ersten Besuch in Indien 1975 lud ihn die indische Regierung ein. Seiner flammenden Rede in Neu-Delhi über Armut und Ungerechtigkeit folgte ein Besuch in Kalkutta. Gegen seinen Willen wohnte Grass im Gouverneurspalast. Er besuchte eine Schriftstellerversammlung, das hervorragend geführte College des Ramakrishna Mission Ashram in Narendrapur, aber auch das Sterbehaus der Missionare der Barmherzigkeit in Kalighat. Leider war Mutter Teresa an jenem Tag abwesend.

Damals wohnte ich als Deutschlektor in Narendrapur. Der Ashramleiter kündigte mir den Besuch des Dichters an. Ich klärte den Mönch über die Bedeutung des Besuchs auf und wurde nervös. Günter Grass und Hindu-Mönche – passte das zusammen? Umschwärmt von Beamten, erschien er und ließ sich ergeben durch den weitläufigen Ashram fahren. Er stellte nachdenkliche Fragen und hörte gesammelt und kommentarlos meinen Antworten zu. Zum Abschluss hielt er vor den Studenten die vielleicht kürzeste Rede, die sie je gehört hatten. Er stand auf und sagte, wie privilegiert sie seien, an diesem College zu studieren, und setzte sich wieder. Darin schwang sowohl Anerkennung für die Qualität der Institution mit als auch Kritik an ihrer elitären Ausrichtung.

Im Jahr 1978 war Grass mit seiner Frau Ute auf einer Weltreise, die ihn auch nach Indien führte, diesmal nach Bombay, dem heutigen Mumbai. Der Leiter des dortigen Goethe-Instituts nahm ihn auf die idyllische Insel Manori mit, auf der das Ehepaar Grass einige Tage verbrachte. Doch es war ein Slum, das Cheetah Camp, das er in dem fiktionalisierten Reisebericht „Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus“ 1980 beschrieb.

Als Günter und Ute Grass im August 1986 nach Kalkutta reisten, um dort für ein Jahr zu bleiben, war es ein strikt privater Aufenthalt. Sie wohnten in einem einfachen Haus in Baruipur am südlichen Stadtrand. Von dort fuhr Grass täglich in überfüllten Vorstadtzügen in die Innenstadt, um Kalkutta zu „ergehen“. Von der kulturellen und politischen Elite hielt er sich fern. Die beiden bekanntesten Einwohner, den Filmregisseur Satyajit Ray und Mutter Teresa, traf er nicht. Stattdessen nahm er sich Daud Haider, einen politischen Flüchtling aus Bangladesch, zum Begleiter.

Bald wurde man aber auf ihn aufmerksam. Er begann Interviews zu geben und im Goethe-Institut an Veranstaltungen teilzunehmen. Schließlich studierte er sein Stück „Die Plebejer proben den Aufstand“ ein und erlebte die Premiere. Doch sein 1988 erschienenes Kalkutta-Tagebuch „Zunge zeigen“ dokumentiert, wie schwer es dem Schriftsteller fiel, die schwüle Hitze, die Moskitos, den Unrat, die Hässlichkeit und die Menschenfülle zu ertragen. Mutig wollte er eine Zeitlang erahnen, was für die Armen ihr lebenslanges Los bedeutet. Mit dem Zeichenblock besuchte er Dhapa, die Müllhalden am östlichen Stadtrand, und schuf die düstersten und grandiosesten Zeichnungen von Kalkutta, die man kennt.

„Zunge zeigen“ wurde in Indien zwiespältig aufgenommen. Der Germanist Pramod Talgeri beklagte, Grass erzeuge „ein voyeuristisches Interesse an Calcuttas materiellem Elend“, andere aber stimmten der Kritik an der Herzenshärte der Mittelklasse gegen die Armen zu. Grass gab später zu, dass sein Tagebuch bewusst einseitig war, um Veränderungen zu provozieren. Anderseits bekannte er: „Calcutta ist die Stadt, die mich radikal verändert hat.“

Der dritte und letzte Kalkutta-Besuch 2005 war ein Triumphzug und eine Reise in die Vergangenheit. Grass war Nobelpreisträger, die indische Verärgerung über das Kalkutta-Tagebuch dem Stolz auf ihn gewichen. Die Zeitung „The Statesman“ erfand die Überschrift „Nobel for Part Calcuttan“ (Nobelpreis für einen halben Kalkuttaer). Vom Goethe-Institut eingeladen, besuchte Grass seine alten Freunde und Plätze, las Gedichte vor Hunderten von Zuhörern, hielt eine Rede in der größten Halle der Stadt, unternahm eine Schifffahrt auf dem Ganges, besuchte die Buchmesse und war in aller Munde. Ein Genuss für den Dichter und „sein Volk“, große Versöhnung! Grass wohnte diesmal im schönsten Fünf-Sterne-Hotel, dem „Oberoi“, wogegen er gutmütig anstänkerte, indem er auch in den Nichtraucherzimmern sein Pfeifchen rauchte.

Am Ende seines Aufenthalts, auf dem ich ihn im Tross begleiten durfte, saßen wir dort spätabends am Schwimmbecken, plauderten, und dann bot der Dichter mir das Du an. Ich war sprachlos, sprachlos dankbar. Das ist mein unvergesslicher „Grass-Augenblick“, den ich heute zum ersten Mal notiere.            MARTIN KÄMPCHEN


Der Autor ist Herausgeber des 2005 erschienenen Bandes „Ich will in das Herz Kalkuttas eindringen – Günter Grass in Indien und Bangladesch“.

 

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