F.A.Z., Donnerstag den 03.09.2015 Feuilleton 13
Dieser Guru hat kein festes Fachgebiet
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen macht sich mit Regierungsschelte nicht nur Freunde in Indien
SANTINIKETAN, Anfang September
Der weltweit bekannteste Inder ist heute kein Politiker mehr, wie es Gandhi, Nehru oder Indira Gandhi waren. Amartya Sen ist ein Ökonom – und noch viel mehr als das. Aber spielt der international geachtete Sen auch in seinem Heimatland eine führende Rolle?
Indien hat seit seiner Unabhängigkeit nur wenige Intellektuelle hervorgebracht, die für die Gesamtbevölkerung dieses außerordentlich vielfältigen Landes gesprochen haben. Unter britischer Herrschaft waren die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bis 1947 mehr oder weniger geeint im Verlangen, die Kolonialregierung zu beenden. Danach traten politische Führerpersönlichkeiten auf, doch sie repräsentierten vorwiegend Kasten, Klassen, religiöse, politische und linguistische Gruppen und wirkten nur selten als Klammern für die konfliktreichen unterschiedlichen Interessen. Die Regierungen in Neu-Delhi wie in den Bundesstaaten betreiben bis heute eine Politik, die bestimmten Bevölkerungsgruppen durch Identitätsstärkung zu politischer Macht verhilft, aber keine nationalen Ziele in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft vertritt.
In den letzten Jahrzehnten gab es vermehrt Versuche, diesen Drang zur Gruppenidentifizierung aufzubrechen. Zahlreiche Bürgerinitiativen und Menschenrechtsorganisationen sind entstanden, die sich um gruppenübergreifende gesellschaftliche Ziele kümmern. Das Internet hat diese Tendenz noch bestärkt.
Amartya Sen wurde 1933 im heutigen Bangladesch geboren, wuchs aber im westbengalischen Santiniketan unter den Augen des berühmten Dichters Rabindranath Tagore auf und besuchte dessen Schule. Schon früh drängte der Hochbegabte aus der ländlichen Idylle hinaus: erst nach Kalkutta, dann nach England und in die Vereinigten Staaten. Den Großteil seiner Karriere, die mit der Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie 1998 ihren Höhepunkt erreichte, verbrachte er in Oxford und Cambridge sowie an den amerikanischen Universitäten Stanford und Harvard; an letzterer unterrichtet der mittlerweile Einundachtzigjährige bis heute.
Sein akademisches Engagement gilt der indischen Heimat und den Entwicklungsländern. Sens Forschungsgebiet ist vor allem die Wohlfahrtsökonomie, sein Augenmerk liegt auf der sozialen Situation der Armen, der Armutsbekämpfung und der sozialen Gerechtigkeit. Im Gegensatz zur Mehrzahl der aus Indien stammenden Professoren, die in Europa und den Vereinigten Staaten lehren, hat Sen seinen indischen Pass behalten und kehrt regelmäßig in die Heimat zurück.
Während dieser Aufenthalte hat Sen immer wieder zur sozialen und politischen Situation des Landes Stellung genommen. Er hat Regierungen beraten und in sie öffentlich ermahnt, er hat Unmut und Lob unverblümt ausgesprochen, vor allem was die Lage der Armen und sozial Benachteiligten betrifft. Nüchtern und präzise ist seine Darstellung dazu, wie sich die Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Armen in Indien immer weiter vertieft.
In seinem jüngst erschienenen Buch „Indien – Ein Land und seine Widersprüche“ (F.A.Z. vom 28. Februar) weisen er und sein Mitautor Jean Drèze auf, wo die Schwachstellen der indischen Sozialpolitik liegen. Die gegenwärtige rechtsgerichtete hindunationale Regierung unter Narendra Modi lehnt Sen ab, weil der Premierminister zu wenig für den sozialen Frieden, vor allem für die Sicherheit der religiösen Minderheiten, getan habe. Zudem kritisiert Sen, dass Modi das Budget für Bildung und Gesundheitswesen gekürzt hat, also für jene Bereiche, die in Indien, auch im Vergleich zu anderen armen Ländern, noch deutlich unterentwickelt sind. Sen wird mit seiner Kritik in Indien gehört, aber dafür auch hart angegriffen, gerade in den sozialen Medien.
Sein öffentliches Wirken beschränkt sich keineswegs auf sein Fachgebiet. Wie ein Guru nach indischer Denkweise kraft seiner spirituellen Einsicht über eine allgemeine Urteilsfähigkeit in allen Bereichen des menschlichen Lebens verfügen soll, so wird Sen zu Fragen der Gesellschaft, der Literatur und der Künste, der Geschichte und der Philosophie befragt. In die indische Bildungspolitik hat er sich schon früher wiederholt eingemischt. Ihm ist bewusst, dass nur durch langfristige Bildungsziele eine dauerhafte Verbesserung des Lebensstandards möglich ist, nicht allein durch forcierte Industrialisierung. Sein Nobelpreis-Geld steckte Sen in die Pratichi-Stiftung, die die Erziehungsarbeit in staatlichen Grundschulen analysiert und Lehrer zu innovativen Lernmethoden anregen will. Dabei war es ihm besonders wichtig, die Ernährungssituation der Schüler und Schülerinnen zu verbessern.
Innovative Lernmöglichkeiten in seinem Sinne sollten mit der Wiederbelebung der Nalanda-Universität in Nordindien geschaffen werden, deren erster Rektor Sen im Herbst vergangenen Jahres wurde. Nalanda ist eines der alten buddhistischen Bildungszentren, lag aber lange brach. Doch schon nach wenigen Monaten schmiss Sen das Handtuch wieder – aus Verärgerung über die aktuelle indische Bildungspolitik. In der August-Nummer der „New York Review of Books“ hat er mit der gegenwärtigen Regierung abgerechnet und Kurskorrekturen gefordert, wenn man die indische Gesellschaft retten wolle.
Die Kolumnistin Sagarika Ghose stellte kürzlich in der „Times of India“ fest, dass die Hindurechte bislang keinen politischen Denker oder Philosophen vom Rang des liberalen Amartya Sen hervorgebracht habe: „In der indischen Politik gibt es einfach keinen echten Ideendiskurs.“ Gerade darum ist Sen auf die Unterstützung sowohl der indischen als auch der westlichen Bildungsschichten angewiesen, um seinem Land im Rahmen der internationalen Debatten zum Thema größere Anerkennung zu verschaffen. MARTIN KÄMPCHEN