„Südasien“ 2015
Martin Kämpchen: Pfefferkörnchen. Ein Erzählzyklus aus Indien, Kitab Verlag, Klagenfurt-Wien 2015, 124 Seiten, 16 Euro
Anders als der Titel „Pfefferkörnchen“ vermuten lassen könnte, wird hier nichts verniedlicht. Die sechs Geschichten dieses „Erzählzyklus“ sind nicht inhaltlich oder personell verknüpft, wohl aber thematisch: Ihr roter Faden ist das Leiden des Einzelnen an den Normen und Zwängen der Gesellschaft, besonders an ihren Ehe-Konventionen. Diese Geschichten haben kein Happy End, weder kommt es bei den Hauptfiguren, meist jungen Männern, zur Erfüllung in der Liebe, noch zur Verwirklichung beruflicher Ambitionen oder hochfliegender künstlerischer Pläne. Ihr Scheitern oder ihr vorzeitiger Tod erscheint allerdings nicht zwangsläufig, bleibt manchmal rätselhaft.
Der seit Jahrzehnten in Indien lebende Schriftsteller, Journalist und Übersetzer Martin Kämpchen vermittelt in seinem neuen Erzählband Einblicke in die Lebenswelt der kleinen Leute in seiner Wahlheimat Bengalen. Die Protagonisten machen einen sehr realen, authentischen Eindruck. Sie erscheinen nicht wie fiktive Gestalten. Manche von ihnen sind aus feinerem Holz geschnitzt als ihre familiäre Umgebung, mit einer gewissen künstlerischen Begabung, träumerisch oder idealistisch, zeitweise hektisch aktiv, sonst aber arm an Energie und Ausdauer.
So etwa Jyoti, der nach dem Abschluss seines Studiums eine bescheidene Stelle in der bengalischen Regierungsbürokratie antritt. Sein ganzes Interesse gilt jedoch der Literatur, er schreibt Geschichten und wünscht sich sehnlich, publiziert und als Schriftsteller anerkannt zu werden. Mehr als ein kleiner, vereinzelter Erfolg ist ihm aber nicht beschieden. Einmal bricht er aus der Büro-Routine aus, lässt sich von Manob, einem jungen Angehörigen des Santal-Stammes für den Plan begeistern, den Kindern in seinem Dorf freie Schulbildung zu ermöglichen. Er nimmt Urlaub, folgt Manob ins Dorf und arbeitet mit anfangs großem Enthusiasmus als Lehrer. Die Wende tritt ein, als er sich in die junge College-Lehrerin Sudipta verliebt, die sich ebenfalls für Manobs Dorfbildungsprojekt begeistert. Über ihrer Verliebtheit tritt die Entwicklungsarbeit schnell in den Hintergrund, und ihr ungezwungenes Verhalten als Pärchen wird im Santal-Dorf gar nicht gern gesehen. Jyoti kehrt zurück nach Kalkutta und in sein altes Büro, er heiratet Sudipta und träumt weiter von seinem großen Roman, den er aber nie zustande bringt. Viel zu früh stirbt er an einem Schlaganfall.
Noch früher kommt der „Luftikus“ Kanchan auf mysteriöse Weise ums Leben. Er hat gerade sein College-Studium beendet und hilft zeitweise der jungen amerikanischen Studentin Miriam bei ihren anthropologischen Feldstudien im ländlichen Bengalen. Miriam bemüht sich, Kanchan eine Stelle in einer US-Firma in Kalkutta zu verschaffen, was auch zu gelingen scheint, doch ein Angestellter der Firma, der seine eigene Position durch Kanchan gefährdet sieht, schüchtert ihn mit Drohungen ein. Kanchan bekommt schon am nächsten Tag ein heftiges Fieber und stirbt innerhalb weniger Tage. Die Diagnose bleibt unklar, aber Miriam hat einen Verdacht: schwarze Magie.
Kartik, der „sanfte Träumer am Meer“, Sohn eines Fischers, leidet an dem allgegenwärtigen Gestank toter Fische in seinem Dorf. Er stellt aus kleinen Muscheln, die er abseits des Dorfs am Strand sammelt, hübsche Kettchen her, die er an Touristen aus Kalkutta verkauft. Ein älterer Herr freundet sich auf seinen meditativen Spaziergängen mit Kartik an und bietet ihm, als dessen Vater stirbt und auf dem Jungen die Verantwortung für den Lebensunterhalt der Familie lastet, eine Stelle als Hausdiener an. Kartik akzeptiert das Angebot, er willigt auch in eine arrangierte Ehe mit einem Mädchen aus einer anderen Fischersfamilie ein, bleibt aber im Haus seines Patrons und besucht Mutter und Ehefrau nur einmal in der Woche. Nach dem Tod des alten Herrn wird Kartik von dessen in Kalkutta lebenden Sohn weiter beschäftigt, nicht zuletzt, weil er ihm vorlügt, seine Frau und seine Mutter seien gestorben. Monat für Monat überweist Kartik Geld an die Angehörigen im Fischerdorf. Doch als man den ruhigen, freundlichen Kartik quasi als Sohn des Hauses annimmt und ihn erneut verheiraten will, muss er gestehen, dass seine angeblich verstorbene Frau noch lebt. Das ist mehr als peinlich für seinen väterlichen Arbeitgeber, der bereits alles für die Hochzeit arrangiert hat. Es kommt zum Eklat, Kartik verlässt das Haus fluchtartig und geht zurück in sein Heimatdorf. Hier nimmt er dann doch die angestammte Arbeit eines Fischers auf, die der Familie ein bescheidenes Einkommen sichert, „… aber am Gestank der Fischkadaver musste er ein Leben lang würgen.“
Aus all den jungen Männern, die über Ansätze zu kreativer Tätigkeit nicht hinauskommen, ragt nur eine Nebenfigur heraus, der junge Santal Manob, der als erster aus seinem Dorf das College besucht und sich für die Schulbildung der Dorfjugend einsetzt. Er ist zielstrebig, beharrlich und letztlich erfolgreich.
Die – mit Ausnahme der Hilfskrankenschwester Papiya in der Titelgeschichte – nicht so detailliert gezeichneten weiblichen Figuren sind im Vergleich zu den Männern lebenstüchtiger. Sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde und schaffen es, für sich und ihre Familien zu sorgen. Wenig freundlich sind oft die Eltern porträtiert, die aus der Verehelichung ihrer Söhne Kapital schlagen oder gar noch aus deren Tod Gewinn zu schöpfen versuchen.
Kämpchen erzählt gradlinig, schnörkellos, man kann sich in seine Protagonisten gut einfühlen. Die Lektüre bleibt bis zur letzten Seite interessant. Anders als bei zahlreichen anderen Indien-Erzählungen westlicher Autoren stehen hier nicht ausländische Reisende im Zentrum, sondern echte Bürger von Bengalen. Man erfährt viel über ihre Lebensumstände und Mentalitäten, ihre Träume und die soziale Wirklichkeit, an denen diese oft zerschellen.
Reinhold Schein