Siebzig Jahre Einsamkeit (Neue Zürcher Zeitung)

Wunderwelt Indien

Siebzig Jahre Einsamkeit

Gastkommentar von Martin Kämpchen 14.8.2017, 05:30 Uhr

https://www.nzz.ch/meinung/wunderwelt-indien-siebzig-jahre-einsamkeit-ld.1310559

Die Realität Indiens ist durch eine verwirrende Vielfalt von Lebensweisen geprägt. Siebzig Jahre nach seiner Gründung am 15. August 1947 hat das Land das Trauma der Teilung noch immer nicht verdaut.

70 Jahre Einsamkeit

Illustration: Peter Gut)

Im Jahr 1971, gerade volljährig geworden und noch Student in Wien, besuchte ich Indien zum ersten Mal. Nach drei Monaten Reise wusste ich: Dort muss ich nochmals hin, ich lerne, was ich in Europa nicht erfahren könnte. Kaum fertig mit der Germanistik, flog ich nach Kalkutta, um ein oder zwei Jahre Deutsch zu unterrichten und ausserdem das Leben der Menschen besser kennenzulernen. Ich war fasziniert, aber zum Leben der Hippies, die zu jener Zeit Indien überschwemmten, fühlte ich mich nie hingezogen. Ich war, ohne die Brücken zu meinem abendländisch-christlichen Erbe abzureissen, ein Suchender, ein Meditierender . . .

Die «ein oder zwei Jahre» sind noch nicht vorbei – weiterhin lebe ich in der Nähe von Kalkutta und beschäftige mich schreibend und übersetzend mit dem Land. Es ist mein Lebensthema geworden, und noch lange bin ich mit Indien nicht am Ende.

Als ich in Kalkutta ankam, gab es nichts, was heute mit Lebensqualität gleichgesetzt wird. Kein Fernsehen, keine Computer, kein Internet, kein Mobiltelefon. Auch keinen Supermarkt und nur ein Automodell, den Ambassador, der trotz heftiger Rivalität unverwüstlich auf den Strassen bleibt. Die Politik war fest in Händen der Nehru-Gandhi-Dynastie, die das Ethos und die Themen der Unabhängigkeitsbewegung fortschrieb. Demokratischer Sozialismus war die Devise.

Nie verkraftete Teilung

Doch hatte die Ernüchterung schon eingesetzt: Was war vom Idealismus der Generation von Freiheitskämpfern übrig geblieben? Hatten sie ihr Leben für die Korruption der Geschäftemacher und den egoistischen Machthunger der Politiker geopfert? «Politik» wurde ein schmutziges Wort, und jene Politiker und Bürokraten, die staatsmännischen Weitblick und kulturelle Gravitas besassen, wurden seltener. Mir wurde bewusst, dass das koloniale Indien seine Teilung im Jahr 1947 in ein mehrheitlich hinduistisches Indien und ein mehrheitlich muslimisches Pakistan nicht verkraftet hatte. Die weiter schwärende Wunde Kaschmir sowie die überall aufflackernden religiösen Spannungen, die sich bis heute in blutigen Massakern entladen, hatten dort ihre Ursache.

Ich übte mich derweil in strenger, lebendiger Einfachheit, darin Mahatma Gandhi folgend, der als «Vater der Nation» über seinen Tod 1948 hinaus Einfluss zumindest als Ikone ausübte. Gerade diese einfache Lebensführung wurde mir zur Befreiung aus einer Anspruchshaltung, die ich für unerlässlich aus Mitteleuropa übernommen hatte. In Indien lernt man, was man alles nicht braucht. Das ist keine Sozialromantik. In Indien sind Umweltzerstörung und Klimawandel schon tägliche Katastrophe. Als Europäer wird man nachdenklich.

Ich begann wieder zu studieren, absolvierte ein zweites Studium an der Universität von Santiniketan, jener kleinen Stadt 150 Kilometer nördlich von Kalkutta, in der der Dichter Rabindranath Tagore gelebt und als Pädagoge, Sozialreformer und Visionär einer friedlichen Weltgemeinschaft gewirkt hatte. Er war kein kauziger Weltverbesserer, dafür hatte er zu viel kämpfen und leiden müssen. Seine Mensch, Natur und Kosmos als Einheit schauende Lyrik (die ich aus dem Bengalischen übersetzt habe) erweckt den Geist des alten Indien und interpretiert ihn für unsere Moderne.

In Santiniketan, wie überall im städtischen Mittelstand, leben wir im sozialen Spannungsfeld jenes hochidealistischen geistigen Erbes und der alltäglichen Korruption, der engherzigen Parteienpolitik und der praktischen Schwierigkeiten einer maroden Infrastruktur. Die Qualität von Strassennetz und Stromversorgung und die Effizienz von Zug- und Flugverkehr haben einen Riesensprung nach vorn gemacht, gewiss. Doch kann in den Städten dieser gewöhnliche Luxus jederzeit zusammenbrechen.

Zivilisatorische Bedrohungen

Wer ihn in vollem, «angenehmem» Umfang nutzen will, muss sich Tag für Tag dafür abquälen. (Während ich dies schreibe, herrscht wieder Stromsperre; die Leitungen würden Funken sprühen, heisst es.) Und wie viele Dörfer haben noch keinen funktionierenden Stromanschluss, keine Toiletten für jede Familie, kein das gesamte Jahr hindurch sauberes Wasser!

Das dringend notwendige Bewusstsein für zivilisatorische Bedrohungen wie Umweltzerstörung, Luftverschmutzung und vor allem Überbevölkerung ist in breite Schichten noch nicht eingedrungen. Die Wirtschaftswissenschafter Amartya Sen und Jean Drèze betonen in ihrem Buch «Indien» (2014), dass eine Regierung nach der anderen zwei wesentliche Bereiche vernachlässige: das Erziehungs- und das Gesundheitswesen.

Die Kongresspartei ist seit der schweren Wahlniederlage vor drei Jahren ein Zaungast. Der im Juli gewählte neue indische Präsident stammt nicht mehr aus der Tradition der Unabhängigkeitsbewegung. Die indienweit führende politische Kraft ist die Bharatiya-Janata-Partei, die den Hindu-Nationalismus fördert und den Pluralismus des Landes eindämmen will. Dies bedeutet einen Paradigmenwechsel, der bereits im Alltag zu spüren ist. Mir wird es nicht leichter, in Indien integriert zu leben. Gewisse Themen sind tabuisiert. Die ideologische Verengung auf ein Hindutum, das alte, ehrwürdige Riten und fromme Praktiken mit unwissenschaftlichen, ins Magische driftenden Anschauungen verquickt, wird plötzlich zum politischen Konzept erhoben. Zum Beispiel die Verehrung der Kuh, immer schon ein Element des Hindu-Glaubens, wird fanatisch auf die Spitze getrieben: Der Verkauf und das Schlachten von Kühen werden eingeschränkt oder verboten. Wer es dennoch tut – und gerade viele Muslime, deren Glaube den Konsum von Rindfleisch nicht verbietet, leben davon –, ist in Gefahr, von Hindu-Banden aufgehalten und gelyncht zu werden.

Lynchen, das voraussetzt, dass die Öffentlichkeit Selbstjustiz gegen Muslime sanktioniert, ist eine gefährlich umgreifende Dämonie. Immer wenn das Hindutum politisiert wird, richtet es sich gegen die Minderheiten im Land, und der soziale Friede steht auf dem Spiel.

Die Frustration der Bevölkerung, die in den siebzig Jahren seit der Unabhängigkeit keine Identität als indisches Volk finden konnte, sitzt tief. Auseinandergerissen vom Denken in Kastenunterschieden, in Klassenhierarchien, in trennenden Religionen, spürt das Volk nicht deutlich genug die einigende Kraft der Nation, ihrer Verfassung, ihres Leitspruchs «Einheit in der Vielfalt». Das Selbstbewusstsein vor allem der gebildeten Schicht ist so unsicher, dass sie sich hadernd immer noch im «postkolonialen Zeitalter» wähnt. Die Mittelklasse, die explosiv wächst und dynamisch Jahrzehnte überspringt und aufholt, orientiert sich am Lebensgefühl Amerikas.

Tragisch ist, dass die Spaltung in Indien und Pakistan noch zu keinem Ansatz einer Vergangenheitsbewältigung geführt hat. Die politischen Parteien nutzen diesen Stachel im Fleisch schamlos für ihre Wahlpolitik aus, sie stellen sich als Beschützer dieser oder jener Kaste oder Klasse dar und erhärten so die Risse in der Gesellschaft.

Ländliche Armut einerseits und digitale Moderne andererseits – das sind die Pole, zwischen denen die Bevölkerung ein Zuhause finden muss. Der Sprung ins digitale Zeitalter wird von der Regierung, unterstützt von grossen Konzernen, mit grossem Erfolg forciert. Die gesellschaftliche Durchdringung von Fernsehen, Internet, Mobil- und Smartphone ist atemberaubend. Gibt es noch Bauern in entlegenen Dörfern, die ohne Mobiltelefon auskommen? Gibt es Slumhütten ohne Fernseher, die notfalls batteriebetrieben sind? Es heisst, 400 private Fernsehkanäle seien zu empfangen. Dazu gehören CNN, BBC und Animal Planet ebenso wie Kanäle in sämtlichen indischen Sprachen. Die Smartphones haben, teilweise billig vom chinesischen Markt geliefert, das Volk wie eine Sturzflut überschüttet.

Für die arme Bevölkerung ist das Mobiltelefon segensreich, gibt es ihr doch den nötigen Zusammenhalt und öffnet ihr Informationsquellen und Zugang zu Wissen, das bisher Privileg der Städter war. Die Internationalisierung des Digitalen erhält ihren indischen Stempel durch die «Bollywoodisierung». Information und Entertainment sind schwer zu unterscheiden. Damit kommen die Medien auch bei der riesigen indischen Diaspora profitabel an, doch der Rest der Welt nimmt bis jetzt vom medialen Indien wenig Notiz.

 

Hoffnung auf Bürgersinn

Meine Hoffnung ist, dass die Rolle der «public intellectuals» und der Bürgerinitiativen erstarken wird. Sie liessen lang auf sich warten, agieren jedoch immer selbstbewusster und couragierter und argumentieren jenseits von Parteienklüngel und Eigensucht. Darunter sind Aktivisten und Professoren, Schriftsteller und Journalisten. Einige Verlage, Zeitschriften und Zeitungen können sich mittlerweile mit den besten in der westlichen Welt messen, wenn sie auch weniger Einfluss ausüben. Der Stolz darauf, die grösste funktionierende Demokratie mit regelmässigen freien und relativ fairen Wahlen zu sein, ist berechtigt.

Das Land von 1,3 Milliarden Einwohnern kann manchmal wahre Wunder vollbringen. Die Ausstellung einer Aadhaar-Karte etwa, einer Art von Personalausweis, an die gesamte Bevölkerung ist fast abgeschlossen – eine logistische Grossleistung des Staates, die jedem Inder ein individuelles «Gesicht» gibt. Die Parlamentswahlen und die Volkszählungen sind ähnliche Aktionen. Die Gerichte, wenn auch überlastet und darum schwerfällig, sind ein echtes Korrektiv der Exekutive. Die Medien nutzen beinahe ungehindert ihre Meinungsäusserungsfreiheit. Von allen Seiten ist der Staat als integrer Organismus in Gefahr, und doch hat er sich pluralistisch und funktionsfähig erhalten. Es bleibt so spannend wie vor 44 Jahren, als Indien meine Wahlheimat wurde, Gast dieses Landes zu sein.

Martin Kämpchen, Jahrgang 1948, lebt seit 1973 als Autor, Übersetzer und Journalist in Indien. Vor kurzem ist erschienen: «Lebens-Reisen. 9 Versuche, der Ferne näher zu kommen» (Vier-Türme-Verlag).

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